Böser Bruder, toter Bruder
immer ein fester Bestandteil meines Lebens. Als ich in meinem Aufsatz über ihn schrieb, achtete ich sehr darauf, mein Geheimnis nicht preiszugeben.
Mein Bruder ist immer bei mir. Das kann ich spüren. Er wacht über mich wie ein Schutzenge l …
Natürlich habe ich an keiner Stelle erwähnt, dass ich Jamie sehe und mit ihm sprech e – und dass er mit mir spricht. Ich weiß, dass das niemand verstehen würde. Selbst die Leute, die behaupten, an Geister zu glauben, würden mich für völlig verrückt halten.
»Glauben Sie an Geister?«, frage ich Dr . Macdonald.
Dr . Macdonald überlegt sich ihre Antworten immer sehr genau, als hätte sie Angst, dass sie mit einer falschen Äußerung Schaden anrichten könnte.
Sie zieht die hellen Brauen ein wenig zusammen und steckt sich eine Haarsträhne fest.
»Ich denke nicht, dass ihre Existenz oder Nicht-Existenz ausreichend nachgewiesen ist«, sagt sie schließlich.
» Ich glaube an Geister«, sage ich kühn, »auch wenn Sie meinen, ich hätte nicht alle Tassen im Schrank. Und ich bin nicht die Einzige. Viele Menschen glauben an Geister.«
»Aber nicht viele Menschen haben einen Geist in ihren Alltag integriert«, gibt Dr . Macdonald freundlich zu bedenken.
Ich schweige. Damit hat sie natürlich Recht.
»Sie glauben mir nicht, dass Jamie ein Geist ist«, sage ich. »Sie glauben, dass ich halluziniere.«
Nun ist es Dr . Macdonald, die schweigt. Unsere Gespräche haben etwas Spielerisches. Wir spielen Katz und Maus, so wie ich und Lee Curtis im Anbau, aber hier ist es ein Spiel mit Worten. Dr . Macdonald hält sich für die Katze, aber noch bin ich nicht bereit, mir das Genick durchbeißen zu lassen.
»Ist Jamie hier?«, fragt sie mich.
Mein Lächeln verblasst. »Nein. Ich habe ihn seit dem Morgen in der Schule nicht mehr gesehen.«
Das letzte Mal, als ich Jamie sah, war er auf dem Weg zum Anbau gewesen. Wir waren noch nie so lange voneinander getrennt, und es fühlt sich an, als hätte ich einen Teil von mir selbst verloren.
Warum kommt er nicht?
»Weißt du eigentlich, was bei deiner Geburt geschah, Mia?«, fragt Dr . Macdonald und wechselt einmal mehr abrupt das Thema. Das ist eine ihrer Taktiken. »Bei deiner und Jamies?«
Ich schüttele den Kopf.
»Es war wohl eine schwierige Geburt, mit einigen Komplikationen«, erklärt sie freundlich. »Und der Arzt hatte erst wenig Erfahrung. Das hat dazu geführt, dass Jamie nicht durchkam.«
Mich überkommt eine tiefe Traurigkeit und ich beiße mir auf die Lippe. Jetzt verstehe ich, warum Mum eine solche Abneigung gegen Ärzte und Krankenhäuser hat.
»Das hat sie Ihnen alles erzählt?«, frage ich.
»Ja.« Dr . Macdonald hält meinem skeptischen Blick stand. »Überrascht dich das, Mia?«
»Ein bisschen«, gebe ich zu. »Es musste wohl tatsächlich erst etwas Krasses passieren, damit Mum endlich darüber spricht. Etwas wie der Amoklauf.«
»So hast du es dir auch vorgestellt, oder?«, bemerkt Dr . Macdonald.
Ich sehe sie verständnislos an.
»Das hast du mir vor ein paar Tagen erzählt«, fährt sie fort. »Dass du deine Mutter wachrütteln wolltest, damit sie ihre Medizin nimmt und sich um euch kümmert.«
»Oh.« Jetzt verstehe ich sie. »Das war nicht ich. Das war Jamie.«
»Ja, richtig.« Dr . Macdonalds Miene ist so glatt und ausdruckslos wie eine Maske. »Nun, diesmal sorgen wir dafür, dass deine Mutter die Hilfe bekommt, die sie braucht. Mach dir darüber keine Gedanken . – Ach, wie ich sehe, ist unsere Zeit für heute um.«
Ich bin Dr . Macdonald dankbar, aber das hält mich nicht davon ab, hartnäckig an dem festzuhalten, was ich verdammt noch mal weiß. Jamie war all die Jahre bei mir, und Jamie ist ein Geist.
Ein real existierender Geist.
Wahrscheinlich ist das ein Widerspruch in sich.
Keiner weiß so richtig, warum Lee Curtis die Tat begangen und was er sich davon versprochen hat. Er war sauer auf die Schule und insbesondere auf Mr s Lucas, da sie ihn beim Dealen erwischt und dafür gesorgt hatte, dass er suspendiert wurde. Und vielleicht hat er auch vor Kat Randall den starken Mann markieren wollen.
Seine Pistole, die er übers Internet gekauft hatte, war übrigens nicht echt. Gefährlicher war der Sprengstoff, den er in seinem Rucksack in die Schule geschmuggelt hatte. Die Anleitung zum Bombenbauen hatte er ebenfalls im Netz gefunden. Er hatte die Sprengsätze rund um die Klass e 9 d platziert, einen davon an der Zimmertür, einen anderen an der Tür zur Abstellkammer, in der ich mich
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