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Böser kleiner Junge (German Edition)

Böser kleiner Junge (German Edition)

Titel: Böser kleiner Junge (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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ich. Nicht großartig, das konnte sie besser, aber ordentlich. Dann musste sie vorsingen.
    Es war Marians großer Auftritt. Ich weiß nicht, ob Sie diese Nummer kennen: »Good Night, My Someone«, ein ganz bezauberndes und einfaches Lied. Vicky hatte es mir bestimmt ein halbes Dutzend Mal aus dem Stegreif vorgesungen, und das perfekt. Süß und traurig und voller Hoffnung. An diesem Tag jedoch war sie grauenhaft. Sie vermasselte es nach Strich und Faden. Sie schaffte es nicht, die richtige Tonlage zu treffen, und musste nicht nur einmal, sondern zweimal von vorne anfangen. Patinkin wurde sichtlich immer ungeduldiger, weil noch einige andere Mädels darauf warteten, vorzusprechen und zu singen. Die Frau am Klavier verdrehte bereits die Augen. Am liebsten hätte ich ihr in ihre blöde Pferdevisage geschlagen.
    Als Vicky fertig war, zitterte sie am ganzen Leib. Mr. Patinkin bedankte sich, Vicky bedankte sich ebenfalls sehr höflich, und dann lief sie aus dem Raum. Ich holte sie ein, bevor sie das Gebäude verlassen konnte, und sagte ihr, wie großartig sie gewesen sei. Sie lächelte und bedankte sich bei mir und sagte, dass wir beide sehr wohl wüssten, dass dem nicht so sei. Wenn Mr. Patinkin wirklich so gut sei, wie alle behaupteten, sagte ich, würde er ihre Nervosität sicherlich verstehen und trotzdem die tolle Schauspielerin in ihr erkennen. Sie umarmte mich und meinte, ich sei ihr bester Freund. Außerdem, sagte sie, ist das ja nicht das Ende der Welt. Nächstes Mal nehme ich vorher eine Valium. Ich hatte nur Angst, dass sich meine Stimme verändert. Ich hab mal gehört, dass das bei bestimmten Medikamenten passieren kann. Dann lachte sie. Viel schlimmer als heute kann’s ja nicht mehr kommen, sagte sie. Ich schlug vor, ihr bei Nordy’s ein Eis zu spendieren. Klingt gut, sagte sie, und wir gingen los.
    Und jetzt kommt der unglaubliche Teil.
    Wir gingen Hand in Hand auf dem Bürgersteig, und ich erinnerte mich daran, wie oft ich mit Marlee Jacobs Händchen haltend zur Mary Day Grammar School und wieder zurück gegangen war. Ich will nicht behaupten, dass dieser Gedanke ihn heraufbeschworen hat, aber ich kann es auch nicht ausschließen. Keine Ahnung. Manchmal liege ich nachts in meiner Zelle und grüble darüber nach.
    Anscheinend ging es Vicky wieder besser, jedenfalls redete sie gerade darüber, was für einen tollen Professor Hill ich abgeben würde, als uns jemand von der anderen Straßenseite aus etwas zurief. Nein, eigentlich war es kein Rufen. Eher ein Eselsgeschrei.
    GEORGE UND VICKY SITZEN AUF DEM BAUM UND B-U-M-S-E-N!
    Er war es. Der böse kleine Junge. Dieselben Shorts, derselbe Pullover, das orangefarbene Haar, das unter der Mütze mit dem Plastikpropeller hervorspitzte. Über zehn Jahre waren vergangen, und er war keinen Tag gealtert. Ich kam mir vor, als wäre ich in der Zeit zurückgereist – nur dass ich jetzt Vicky Abingtons und nicht Marlee Jacobs’ Hand hielt und mich auf der Reynolds Street in Pittsburgh und nicht auf der School Street in Talbot, Alabama, befand.
    Was zum Teufel, sagte Vicky. Kennst du den Jungen, George?
    Tja, was sollte ich darauf antworten? Ich sagte gar nichts. Ich war so verblüfft, dass ich keinen Ton herausbrachte.
    Du bist eine beschissene Schauspielerin und eine noch beschissenere Sängerin, rief er. Eine KRÄHE singt besser als du! Und du bist HÄÄÄSSLICH! DIE HÄÄÄSSLICHE VICKIIIEE , das bist du!
    Ihre Hände fuhren zum Mund, und ich weiß noch, wie ihre Augen immer größer wurden, wie sie sich wieder mit Tränen füllten.
    Lutsch ihm doch den Schwanz, rief er. Anders kriegt eine so untalentierte, hässliche Fotze wie du ja nie eine Rolle!
    Ich wollte auf ihn losgehen. Alles fühlte sich so unwirklich an, als wäre es nur ein Traum. Es war später Nachmittag, und auf der Reynolds Street herrschte dichter Verkehr, aber daran dachte ich überhaupt nicht. Vicky schon. Sie packte mich am Arm und zog mich zurück. Ich glaube, sie hat mir das Leben gerettet, denn nur ein, zwei Sekunden später rauschte mit lautem Hupen ein großer Bus an uns vorbei.
    Nicht, sagte sie. Er ist es nicht wert. Wer auch immer das ist.
    Auf den Bus folgte ein Lastwagen. Sobald auch der vorüber war, sahen wir den Jungen die andere Straßenseite hochlaufen. Er erreichte die Kreuzung und bog um die Ecke, doch zuvor zog er die Shorts herunter, beugte sich vor und zeigte uns den blanken Hintern.
    Vicky setzte sich auf eine Bank. Ich ließ mich neben ihr nieder. Sie fragte mich noch einmal,

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