Böser Wolf: Kriminalroman (German Edition)
sein. Vor ihrem inneren Auge sah Emma ihre kleine Tochter mit zerschmetterten Knochen und klaffenden Wunden vor sich. Das einzig Gute an dieser Katastrophe war, dass sie nun sofort das Jugendamt verständigen und darauf bestehen würde, dass das Kind abends zu ihr nach Hause kommen musste. Mit der Übernachterei in irgendwelchen fremden Pensionen oder Wohnungen war Schluss.
Zwanzig Minuten später stürmte sie ins Foyer des Krankenhauses. Im Wartezimmer der Notaufnahme saß kein Mensch, sie klingelte an der verschlossenen Milchglastür. Es dauerte ein paar Minuten, bis sich endlich jemand dazu bequemte, die Tür zu öffnen.
»Meine Tochter ist bei Ihnen«, stieß sie hervor. »Ich will zu ihr. Sofort. Sie ist von einem Pony gefallen und …«
»Wie ist Ihr Name?« Der picklige Jungspund in blauer Krankenhausärztetracht war an aufgeregte Angehörige gewöhnt und ließ sich weder beeindrucken noch aus der Ruhe bringen.
»Finkbeiner. Wo ist meine Tochter?« Emma versuchte über seine Schulter zu schauen, aber sie sah nur einen leeren Flur.
»Kommen Sie mit«, sagte er, und sie folgte ihm mit klopfendem Herzen in eines der Untersuchungszimmer.
Louisa lag auf der Untersuchungsliege, klein und blass, mit einem großen weißen Pflaster an der Stirn, das linke Ärmchen in einer Schiene. Beinahe wäre Emma vor Erleichterung in Tränen ausgebrochen, als sie ihr Kind lebendig vor sich sah.
»Mama!«, flüsterte das Mädchen und hob kraftlos eine Hand. Emma blutete das Herz bei diesem Anblick.
»Ach, mein Liebling!« Sie hatte weder Augen für Florian, der wie ein begossener Pudel dastand, noch für die Ärztin. Emma umarmte Louisa und streichelte ihre Wange. Sie war so zart, ihre Haut so durchscheinend, dass die Adern zu sehen waren. Wie konnte Florian dieses zerbrechliche Geschöpf nur einer solchen Gefahr aussetzen?
»Du darfst nicht böse auf den Papa sein«, sagte Louisa leise. »Ich wollte unbedingt reiten.«
In einer Ecke ihres Herzens flammte eifersüchtiger Zorn auf. Unglaublich, wie Florian das Mädchen manipuliert hatte!
»Frau Finkbeiner?«
»Was hat meine Tochter?« Emma blickte in das Gesicht der Ärztin. »Hat sie sich etwas gebrochen?«
»Ja, den linken Arm. Leider ist der Bruch etwas verschoben, deswegen müssen wir operieren. Die Gehirnerschütterung ist in ein paar Tagen ausgeheilt«, entgegnete die Ärztin, eine sehnige Person mit einem rotblonden Pagenschnitt und hellen, wachsamen Augen. »Außerdem …«
Sie machte eine Pause
»Ja, was?«, fragte Emma nervös. War das nicht schon schlimm genug?
»Ich möchte mit Ihnen beiden sprechen. Schwester Jasmina wird solange bei Louisa bleiben. Kommen Sie bitte mit.«
Emma brachte es kaum übers Herz, ihre Tochter allein in dem großen, sterilen Untersuchungsraum zurückzulassen, aber sie folgte der Ärztin und Florian in das benachbarte Arztzimmer. Die Ärztin nahm hinter dem Schreibtisch Platz und wies auf die beiden Stühle. Unbehaglich setzte sich Emma neben ihren Mann, sorgfältig darauf bedacht, ihn nicht zu berühren.
»Es ist mir ein bisschen unangenehm, das jetzt zu sagen, aber …« Die Ärztin blickte von Florian zu Emma. »Ihre Tochter hat Verletzungen, die den Verdacht zulassen, sie könnte … missbraucht worden sein.«
»Wie bitte?«, sagten Emma und Florian wie aus einem Munde.
»Sie hat Quetschungen und Blutergüsse an der Innenseite eines Oberschenkels und Verletzungen an der Vagina.«
Für einen Augenblick herrschte Totenstille. Emma war wie gelähmt vor Entsetzen. Louisa missbraucht?
»Ich glaube, Sie haben den Verstand verloren!« Florian sprang auf. Er wurde abwechselnd rot und blass im Gesicht. »Meine Tochter ist von einem Pony gestürzt und dabei vielleicht etwas unglücklich gefallen! Ich bin selbst Arzt und weiß, dass solche Verletzungen durch einen Sturz entstehen können.«
»Beruhigen Sie sich bitte«, sagte die Ärztin.
»Ich denke nicht daran, mich zu beruhigen!«, schrie Florian zornig. »Das sind unglaubliche Vorwürfe, die Sie da äußern! Das muss ich mir nicht gefallen lassen!«
Die Ärztin hob die Augenbrauen und lehnte sich zurück.
»Es ist nur ein Verdacht«, antwortete sie ruhig. »Man ist eben sehr sensibel geworden. Natürlich können diese Verletzungen auch eine ganz andere Ursache haben, aber sie sind schon ziemlich typisch für sexuellen Missbrauch, und sie sind nicht frisch. Vielleicht sollten Sie sich mal in Ruhe Gedanken machen und überlegen, ob Ihre Tochter sich in letzter Zeit
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