Böser Wolf: Kriminalroman (German Edition)
verändert hat, ob sie Verhaltensauffälligkeiten zeigt, die Sie früher nicht an ihr bemerkt haben. Ist sie stiller geworden, oder aggressiver?«
Emma musste unwillkürlich an den zerschnittenen Plüschwolf denken und an Louisas heftigen Ausbruch neulich im Garten der Schwiegereltern. Ihr wurde ganz kalt, und in ihrem Innern begann es zu vibrieren. Als sie Florian von Louisas eigenartigem Verhalten erzählt hatte, hatte der ihre Besorgnis mit der Erklärung, das sei eine normale Entwicklungsphase, abgetan. War es das? Ihr Instinkt hatte ihr damals gesagt, dass etwas mit dem Kind nicht stimmte. Großer Gott! Ihre Hände umklammerten die Armlehnen des Stuhles. Sie wagte nicht, den ungeheuerlichen Gedanken, der ihr durch den Kopf schoss, zu Ende zu denken, aber er ließ sich nicht mehr vertreiben. Was, wenn Florian seine eigene Tochter, die ihn abgöttisch liebte und ihm vertraute, missbraucht hatte? Und wenn sie selbst ihrem Mann, dadurch, dass sie ihn aus dem Haus geworfen hatte, für diesen Missbrauch auch noch Tür und Tor geöffnet hatte! Immer wieder hörte und las man von solchen Gräueltaten, die hinter verschlossenen Wohnungstüren stattfanden, von Vätern, die ihre Töchter vergewaltigten und schwängerten und ihnen einschärften, bloß niemandem etwas davon zu erzählen. Emma hatte nie glauben können, dass Ehefrauen und Mütter nichts davon mitbekommen haben wollten, aber vielleicht war das doch möglich!
Sie brachte es nicht fertig, den Mann anzuschauen, dessen Kind sie unter dem Herzen trug. Louisas Vater. Ihren Ehemann. Er war ihr plötzlich so fremd, als hätte sie ihn nie zuvor gesehen.
*
Pia klappte den Deckel der Toilette herunter und setzte sich hin. Mit einem Stück Klopapier wischte sie sich den kalten Schweiß von der Stirn und zwang sich, ruhig und gleichmäßig zu atmen. Mit Mühe und Not hatte sie es von Hanna Herzmanns Zimmer auf der Intensivstation auf die Damentoilette geschafft und sich die Seele aus dem Leib gekotzt. Im vergangenen Jahr war es ihr während der Obduktion eines Mordopfers zum ersten Mal passiert, nur Henning hatte es mitbekommen und nichts weiter darüber gesagt. Seitdem geschah es immer wieder, dass ihr Kreislauf beim Anblick eines Gewaltopfers absackte und ihr derart übel wurde, dass sie sich übergeben musste.
Pia zog sich am Waschbecken hoch und blickte in den Spiegel, aus dem ihr ein bleiches Gespenst mit dunklen Rändern unter den Augen entgegensah. Sie wusste selbst nicht, wieso ihr das nach zwanzig Jahren bei der Polizei plötzlich so an die Nieren ging. Bisher hatte sie mit niemandem darüber gesprochen, nicht mit Christoph und erst recht mit keinem Kollegen, denn sie hatte überhaupt keine Lust, von ihrer Chefin zum psychologischen Dienst geschickt und womöglich zur Schreibtischarbeit verdonnert zu werden. Natürlich hätte sie Situationen wie diese vermeiden, Ausreden erfinden und Kollegen vorschicken können, aber das tat sie ganz bewusst nicht. Wenn sie dieser Schwäche nachgab, konnte sie ihren Job bald an den Nagel hängen.
Nach einer Viertelstunde verließ sie die Toilette, fuhr mit dem Aufzug ins Erdgeschoss und ging zu ihrem Auto. Bodenstein hatte ein paar Mal auf ihrem Handy angerufen, sie rief zurück, aber er ging nicht dran.
Als sie auf dem Kommissariat eintraf, stand sie noch immer völlig unter dem Eindruck ihres Besuches bei Hanna Herzmann. Es war etwas völlig anderes, die Ergebnisse brutalster Gewalt in einem nüchternen rechtsmedizinischen Protokoll zu lesen, als sie mit eigenen Augen zu sehen. Die Frau sah sich selbst nicht mehr ähnlich, ihr Gesicht war von Blutergüssen furchtbar entstellt, ihr Körper übersät mit Quetschungen, Prellungen und Striemen. Pia schauderte, als sie an Hanna Herzmanns stumpfen, erloschenen Blick dachte, der für ein paar Sekunden den ihren gekreuzt hatte, bevor die Frau wieder die Augen geschlossen hatte.
Aus eigener Erfahrung kannte Pia das Gefühl, besudelt und geschändet zu sein. Im Sommer nach dem Abitur hatte sie im Urlaub einen Mann kennengelernt, der nicht akzeptieren wollte, dass es für sie nur ein Urlaubsflirt gewesen war. Er war ihr nach Frankfurt gefolgt, hatte ihr aufgelauert und sie schließlich in ihrer Wohnung überfallen und vergewaltigt. Pia hatte dieses Ereignis selbst ihrem geschiedenen Mann verschwiegen und versucht, es zu verdrängen und zu vergessen, doch das war ihr nicht gelungen. Keine Frau, die einmal erleben musste, dass sie der wütenden Entschlossenheit eines Mannes
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