Böser Wolf: Kriminalroman (German Edition)
ziemlich der schmerzhafteste Tod ist, den es gibt? Nein? Hm … Die Faustregel ist: Drei bis vier Tage ohne Wasser, und du bist tot. Aber wenn es so warm ist wie jetzt, dann geht das viel schneller. Die ersten Symptome treten ungefähr nach ein bis anderthalb Tagen auf. Der Urin wird durch den Wassermangel ganz dunkel, fast orange, dann hörst du auf zu schwitzen. Der Körper saugt alles Wasser aus den Organen, die er nicht so dringend braucht. Magen, Darm, Leber und Nieren schrumpfen. Ist zwar ungesund, aber noch nicht direkt tödlich. Gut ist, dass du spätestens dann nicht mehr Pipi machen musst.«
Der Anrufer lachte hämisch, und Leonie schloss die Augen.
»Das Wasser wird für die überlebenswichtigen Organe gebraucht, fürs Herz und das Gehirn. Aber irgendwann schrumpfen die auch. Das Gehirn funktioniert nicht mehr richtig. Du kriegst Wahnvorstellungen, Panikanfälle, kannst nicht mehr klar denken. Tja, und dann fällst du ins Koma. Danach ist es nur noch eine Sache von Stunden, bis du stirbst … Keine schöne Vorstellung, nicht wahr?«
Wieder dieses ekelhafte Lachen.
»Weißt du, Leonie, man sollte sich die Menschen, mit denen man umgeht, einfach besser aussuchen. Du hast dir wirklich den totalen Abschaum ausgesucht. Und deshalb musst du jetzt leider verdursten. Nett von dir, dass du ein Schild an die Tür gehängt hast. Dann stört dich wenigstens keiner, bis du ins Koma fällst. Und wenn dich in ein paar Tagen jemand findet, dann bist du mit etwas Glück eine recht appetitliche Leiche. Es sei denn, es verirrt sich eine Fliege in dein Haus und legt ihre Eier in deine Nasenlöcher oder in die Augen … Aber das muss dich dann ja nicht mehr interessieren. Also, mach’s gut. Und nimm’s nicht so schwer. Wir müssen alle mal sterben.«
Das höhnische Lachen dröhnte in Leonies Ohren, dann klickte es und es war still. Bisher hatte Leonie sich damit getröstet, dass sie so gut wie unverletzt war und sie bald jemand finden würde, aber nun dämmerte ihr allmählich die Aussichtslosigkeit ihrer Lage, und die Angst traf sie wie ein Dampfhammer. Ihr Herz begann zu rasen, der Schweiß brach ihr aus allen Poren. Verzweifelt zerrte sie an ihren Fesseln, aber die saßen unerbittlich fest und gaben keinen Millimeter nach. Mit aller Gewalt zwang sie die aufsteigenden Tränen nieder. Nicht nur, dass jede geweinte Träne eine gefährliche Verschwendung der Flüssigkeitsressourcen ihres Körpers bedeutete, sie hatte Angst, dass ihre Nase verstopfen und sie ersticken würde, weil sie nicht durch den Mund atmen konnte.
Bleib ruhig!, beschwor sie sich in Gedanken, aber das war leichter gedacht als getan. Sie saß in ihrem Haus, und an der Tür hing tatsächlich das Schild, das sie blöderweise gestern aufgehängt hatte: Urlaub bis 11. Juli . Das Schild und die heruntergelassenen Rollläden waren ein eindeutiges Zeichen. Das Handy lag auf dem Küchentisch, das Festnetztelefon stand auf dem Schreibtisch, fünf Meter von ihrem Stuhl entfernt und damit unerreichbar. Wie lange saß sie überhaupt schon hier? Leonie ballte die Hände zu Fäusten und öffnete sie wieder, das tat höllisch weh, so als ob die Blutzirkulation unterbrochen wäre. Sie versuchte, über ihre Schulter hinter sich zu schielen, denn dort hing eine Uhr an der Wand, aber es war zu dunkel, als dass sie etwas erkennen konnte. Hilfe von außen war nicht zu erwarten. Also musste sie sich selbst helfen. Oder sterben.
*
Emma war so außer sich, dass sie die rote Ampel an der Kreuzung nach Kronberg übersah und um ein Haar dem vor ihr bremsenden Auto in den Kofferraum gedonnert wäre. Sie stemmte sich mit beiden Händen am Lenkrad ab und stieß einen wütenden Fluch aus.
Vor zehn Minuten hatte Florian sie aus der Notaufnahme des Bad Homburger Krankenhauses angerufen, in das er Louisa gebracht hatte. Er war mit ihr in Wehrheim auf dem Ponyhof Lochmühle gewesen, und sie war von einem Pony gefallen! Sie hatten zigmal darüber gesprochen, dass Louisa noch zu klein für so etwas war und sie mit solchen Dingen wie Ponyreiten noch ein, zwei Jahre warten wollten. Aber Louisa hatte ihren Vater sicherlich angebettelt, und da er unbedingt bei ihr Punkte sammeln wollte, hatte er sich wohl erweichen lassen. Die Ampel sprang auf Grün, Emma bog nach links ab Richtung Oberursel. Sie fuhr viel schneller als erlaubt, aber das war ihr egal. Florian hatte nicht gesagt, was Louisa zugestoßen war, aber wenn er sie ins Krankenhaus gebracht hatte, würde es nicht ganz harmlos
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