Böser Wolf: Kriminalroman (German Edition)
Weile geschlafen, aber da sie sich nicht vollgepinkelt hatte, konnten nicht mehr als höchstens ein paar Stunden vergangen sein. Obwohl die Rollläden heruntergelassen waren, konnte sie erkennen, dass die Sonne auf das rechte Fenster des Therapieraumes schien, das in Richtung Westen zeigte. Also war es jetzt Nachmittag. Vier oder fünf Uhr. Genau würde sie es wissen, wenn die Sonne unterging.
Ihre Zunge fühlte sich pelzig und geschwollen in ihrem Mund an. Sie konnte sich nicht erinnern, jemals so wahnsinnigen Durst verspürt zu haben. Doch mehr noch als die Frage, wer ihr das angetan hatte, quälte sie das Warum. Was hatte sie getan, um eine solche Strafe zu verdienen? Der Anrufer hatte gesagt, sie habe sich die falschen Freunde ausgesucht. Wen meinte er? Hatte es tatsächlich etwas mit Hanna Herzmann zu tun oder mit der Sache, in die sie selbst Hanna hineingezogen hatte? Aber das waren keine Freunde , das waren Patienten . Ein gewaltiger Unterschied.
Das Telefon auf ihrem Schreibtisch klingelte, und Leonie fuhr zusammen.
»Leoniiiiie … Ach, du sitzt noch brav auf deinem Stühlchen.«
Der Klang dieser gemeinen, höhnischen Stimme vertrieb für einen Moment Leonies Angst und verwandelte sich in Zorn. Wenn sie gekonnt hätte, dann hätte sie ihn angeschrien, ihm gesagt, was er für ein sadistisches, krankes Mistschwein sei. Auch wenn es ihr nichts genutzt hätte, so hätte sie es ihm zu gerne gesagt.
»Ist schön leckerwarm bei dir, hm? Du sollst es schön warm haben, wenn du stirbst, deshalb hab ich dir auch die Heizung angestellt.«
Das war also die Erklärung für diese Bullenhitze.
»Kannst du dich erinnern, was ich dir über die Stadien des Verdurstens erzählt habe? Ich muss mich korrigieren. Je größer die Hitze, desto schneller geht es. Ich kann dich beruhigen. Du musst dich keine drei oder vier Tage quälen.«
Ein leises dreckiges Lachen.
»Und du hast nicht mal geweint. Du bist wirklich tapfer. Hast noch Hoffnung, dass dich jemand findet, was?«
Wie konnte er wissen, dass sie nicht geheult hatte? Konnte der Kerl sie etwa sehen? In dieser Dunkelheit? Leonie wandte den Kopf hin und her und versuchte, irgendetwas zu erkennen, aber das Licht reichte nicht aus, um etwas anderes als Konturen zu sehen.
»Jetzt schaust du nach der Kamera, stimmt’s? Ich hab mich verraten. Weißt du, Leonie, eigentlich solltest du schnell sterben. Aber es gibt verdammt viele Menschen auf der Welt, die verdammt viel Geld dafür bezahlen, einen echten Todeskampf auf DVD zu sehen. Deinen müssen wir zwar etwas zusammenschneiden – wer will schon vierundzwanzig Stunden eine hässliche Kuh wie dich auf deinem Stuhl angucken?« Die Stimme war dunkel, samtweich. Keinerlei dialektische Färbung. Eigentlich sogar freundlich. »Aber der Schluss wird sicher grandios. Die Krämpfe, das Zucken … hach, das hab ich auch noch nie gesehen. Ich freu mich richtig drauf. Richtig spannend wird’s erst, wenn dich keiner findet. Wahrscheinlich wirst du gar nicht verwesen, sondern austrocknen und mumifizieren.«
Spätestens in diesem Moment wurde Leonie klar, dass der Mann am Telefon ein kranker Psychopath war, einer, den es anmachte, anderen Schmerzen zuzufügen. Sie hatte ein paar Mal mit solchen Menschen zu tun gehabt, damals, als sie noch in der geschlossenen Psychiatrie in Kiedrich gearbeitet hatte. Diese Erfahrungen hatten sie dazu bewogen, sich auf die Arbeit mit traumatisierten Frauen zu spezialisieren, die Opfer solch perverser Bestien geworden waren.
Plötzlich piepste es, und die Stimme verstummte. Das Band ihres altmodischen Anrufbeantworters war voll.
Es war ganz still, bis auf das Geräusch ihres eigenen Atems. Ihre Nase war ausgetrocknet, jeder Atemzug wurde mühsam und fühlte sich so an wie in der Sauna, wenn die Nasenhärchen in der heißen Luft brannten. Aber sie schwitzte nicht mehr. Die Erkenntnis, dass sie keine Chance mehr hatte, lebend aus diesem Zimmer zu entkommen, dass sie sterben würde, hier, in ihrem eigenen Haus, in dem sie sich immer wohl und sicher gefühlt hatte, traf sie mit Urgewalt. Es war ihr egal, dass dieses abartige Schwein sie beobachten konnte. Mit aller Kraft rüttelte Leonie an ihren Fesseln, sie schrie mit geschlossenem Mund gegen das Klebeband an, bis ihre Stimmbänder schmerzten und sie das Gefühl hatte, ihr Kopf müsse platzen. Sie wollte der Todesangst nicht gestatten, Gewalt über sie zu erlangen, nein, sie wollte nicht sterben!
*
Im weitläufigen Gartenlokal des Gimbacher Hofs
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