Böser Wolf: Kriminalroman (German Edition)
schien aufgeplatzt zu sein, denn sie konnte auf einmal den Fuß bewegen, mit der Zehenspitze sogar den Boden berühren! Neue Hoffnung flutete durch jede Ader ihres Körpers, sie mobilisierte alle Kräfte, stemmte die Zehen gegen den Boden. Es gelang tatsächlich, den Stuhl ein Stückchen nach hinten zu schieben. Zwei Zentimeter, dann noch ein paar Zentimeter. Leonie bekam kaum noch Luft, so sehr strengte es ihren geschwächten Körper an. Vor ihren Augen tanzten grelle Punkte, aber draußen war es mittlerweile stockdunkel. Kein Licht fiel durch die Ritzen des Rollladens, es musste also Nacht sein. Es war mehr als vierundzwanzig Stunden her, seitdem sie in der Küche die Cola light getrunken hatte. Ihre Hände krampften sich um die hölzernen Armlehnen, sie stemmte die Zehen gegen den Boden, doch sosehr sie sich auch anstrengte, der Stuhl bewegte sich nicht mehr. Der Dielenboden im Therapieraum war ausgetreten und uneben, und die Stuhlbeine hingen an einem Widerstand fest. Voller Verzweiflung spannte Leonie jeden Muskel ihres Körpers. Plötzlich spürte sie, dass sich der Stuhl nach hinten neigte. Sie konnte sich nicht nach vorne beugen, weil ihr Oberkörper fest an die Stuhllehne geschnürt war. Der Stuhl kippte um, ihr Kopf krachte auf den Holzfußboden. Ein paar Sekunden lang verharrte Leonie reglos und benommen. Hatte sich ihre Lage nun verbessert oder verschlechtert? Sie lag hilflos auf dem Rücken wie ein Käfer, ihr Fuß, der einzige einigermaßen bewegliche Körperteil, ragte in die Luft. Ihre Brust hob und senkte sich heftig, aber sie bemerkte, dass es nicht mehr so heiß war. Warme Luft stieg nach oben, auf dem Boden war es daher ein wenig kühler. Leonie versuchte, sich die Einrichtung des Raumes vorzustellen. Wie weit war sie vom Schreibtisch entfernt? Obwohl, was nutzte ihr das schon? Sie konnte sich sowieso nicht rühren! Voller Zorn rüttelte sie an ihren Fesseln, begehrte gegen die hoffnungslose Situation auf. Das Telefon auf dem Schreibtisch klingelte. Der Anrufbeantworter sprang an, die automatische Stimme verkündete jedoch nur, dass das Band voll sei. Das Schwein hatte sicherlich gesehen, was passiert war. Das Herz klopfte ihr bis in den Hals. Ob er herkommen und sie töten würde? Wo war er wohl? Wie lange würde er brauchen? Wie viel Zeit blieb ihr noch?
Montag, 28. Juni 2010
Es war schon kurz vor neun, und Corinna hatte für neun Uhr eine Besprechung im Verwaltungsgebäude angesetzt. Emma graute vor der Feier am kommenden Freitag, denn spätestens da würde sie Florian wiedersehen und gute Miene zum bösen Spiel machen müssen, wollte sie ihrem Schwiegervater nicht die Geburtstagsfeier ruinieren.
Sie nahm die Abkürzung quer über den Rasen, der noch feucht war von der nächtlichen Beregnung. Die Ärztin im Krankenhaus hatte ihr versichert, dass es Louisa gutgehe, der Sachbearbeiterin beim Jugendamt hatte Emma eine Rückrufbitte auf dem Anrufbeantworter hinterlassen, fest entschlossen, Florian den Umgang mit Louisa auf offiziellem Wege verbieten zu lassen.
Das Gespräch mit der Therapeutin hatte Emmas Besorgnis nicht etwa zerstreut, sondern erheblich verstärkt. Sie hatte der Frau vom Verdacht der Krankenhausärztin erzählt und von Louisas verändertem Verhalten in den letzten Wochen, das Florian als normale Entwicklungsphase einer Fünfjährigen bezeichnet hatte. Die Therapeutin war vorsichtig gewesen mit ihrer Beurteilung. Es könne tatsächlich eine ganz andere Erklärung für das zerschnittene Lieblingsplüschtier, die abrupten Wechsel zwischen Wutanfällen und erschöpfter Lethargie und die Aggressivität Emma gegenüber geben, aber auf jeden Fall sei es sehr wichtig, dieses Verhalten mit erhöhter Aufmerksamkeit zu beobachten. Sexueller Missbrauch durch Väter, Onkel, Großväter oder enge Freunde der Familie sei leider sehr viel weiter verbreitet, als man gemeinhin annehme.
»Kleine Kinder verstehen instinktiv, dass das, was mit ihnen getan wird, nicht richtig ist. Aber wenn der Missbrauch durch eine vertraute Person geschieht, wehren sie sich nicht dagegen«, hatte die Therapeutin gesagt. »Im Gegenteil: Meist gelingt es dem Täter, das Kind zu einer Komplizenschaft zu bringen. ›Das ist unser Geheimnis, die Mama oder die Geschwister dürfen nicht wissen, dass ich dich so lieb habe, sonst sind sie traurig oder neidisch.‹ So etwas in der Art.«
Auf Emmas Frage, wie sie sich zukünftig verhalten sollte, was sie tun konnte, gerade in den nächsten Wochen, wenn das Baby zur Welt
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