Böser Wolf: Kriminalroman (German Edition)
gekommen war, hatte sie keine besonders konstruktive Antwort gehabt. Sie solle Louisa bei einer Person ihres Vertrauens unterbringen.
Klasse. Emma vertraute Corinna und auch ihren Schwiegereltern, aber wie konnte sie verhindern, dass diese Florian den Umgang mit dem Kind gestatteten? Als Erklärung würde sie ihren Verdacht äußern müssen. Emma mochte sich nicht ausmalen, welche Reaktion ein Missbrauchsvorwurf gegen Florian innerhalb seiner Familie hervorrufen würde. Wahrscheinlich hielte man sie für hysterisch oder gar für rachsüchtig.
Tief in Gedanken versunken ging sie an den Rhododendronbüschen vorbei, die im Laufe von Jahrzehnten zu einem wahren Dschungel geworden waren.
»Hallo«, sagte jemand, und Emma fuhr erschrocken zusammen. Auf einer schmiedeeisernen Bank saß eine ältere Frau in einem weißen Kittel und rauchte eine Zigarette. Über dem weißen Haar trug sie ein Haarnetz, ihre nackten Füße steckten in Plastiksandalen.
»Hallo«, erwiderte Emma höflich. Erst jetzt erkannte sie Helga Grasser, die Mutter des Finkbeiner’schen Faktotums Helmut Grasser, die sie nur flüchtig vom Sehen kannte.
»Na«, sagte die Alte und trat die Zigarettenkippe aus. »Ist es so weit?«
»Zwei Wochen dauert es noch«, erwiderte Emma, die annahm, die Frage beziehe sich auf ihre Schwangerschaft.
»Das mein ich nicht.« Helga Grasser erhob sich mit einem Ächzen und kam näher. Sie war groß und kräftig, ihr gerötetes Gesicht überzogen von Falten und geplatzten Äderchen. Ein durchdringender Schweißgeruch entströmte ihrem Kittel, der eine Nummer zu klein schien und an Bauch und Brust auseinanderklaffte. Emma konnte rosaweiße Haut sehen und schauderte. Die alte Frau trug nichts darunter.
»Ich muss zu einer Besprechung.« Emma wollte rasch weitergehen, aber Frau Grasser ergriff mit einer plötzlichen Bewegung ihr Handgelenk.
»Wo Licht ist, ist auch Schatten«, flüsterte sie bedeutsam. »Kennst du das Märchen vom Wolf und den Geißlein? Nicht? Soll ich es dir erzählen?«
Emma versuchte, sich loszumachen, aber die Alte umklammerte ihren Arm wie ein Schraubstock.
»Es war einmal eine Geiß, die hatte sechs junge Geißlein und hatte sie lieb, wie eine Mutter ihre Kinder liebhat«, begann Helga Grasser.
»Soweit ich mich erinnere, waren es sieben Geißlein«, wandte Emma ein.
»In meiner Geschichte sind es sechs. Hör zu …« Die dunklen Augen der alten Frau glitzerten, als ob sie einen guten Witz zum Besten geben würde. Emmas Unbehagen wuchs. Corinna hatte ihr irgendwann einmal erzählt, Helga Grasser sei geistig etwas zurückgeblieben, in der Küche aber als Spülhilfe unentbehrlich. Florian hatte sich weitaus unverblümter über den Geisteszustand von Helmut Grassers Mutter ausgelassen. Seit einer Hirnhautentzündung vor vierzig Jahren sei Helga Grasser total gaga. Alle Kinder hatten sich früher schrecklich vor ihr gefürchtet, weil sie ihnen mit Vorliebe blutrünstige Schauermärchen erzählte. Sie hatte viele Jahre in der geschlossenen Psychiatrie zugebracht, weshalb, das hatte Florian angeblich nicht gewusst.
»Eines Tages«, flüsterte die Alte heiser und schob ihr Gesicht dicht an Emmas heran, »musste die Geiß verreisen, da rief sie alle sechs herbei und sprach: ›Liebe Kinder, ich muss für ein paar Tage weg, seid auf der Hut vor dem Wolf und geht nicht hoch auf den Speicher! Wenn er euch dort findet, frisst er euch alle mit Haut und Haar. Der Bösewicht verstellt sich, aber an der rauen Stimme und an seinem schwarzen Fell werdet ihr ihn schon erkennen.‹ Die Geißlein sagten: ›Liebe Mutter, wir werden uns in Acht nehmen, du kannst ohne Sorge fortgehen.‹ Da meckerte die Alte und machte sich getrost auf den Weg.«
»Ich muss jetzt wirklich weiter«, unterbrach Emma die Frau und wischte sich mit der freien Hand Speicheltröpfchen von der Wange.
»Du denkst auch, ich bin bekloppt, nicht wahr?« Sie ließ Emmas Arm los. »Aber das bin ich nicht. Vor Jahren sind hier schlimme Dinge geschehen. Das glaubst du mir nicht?«
Sie kicherte, als sie Emmas verblüffte Miene sah, dabei entblößte sie einen bis auf die beiden Eckzähne zahnlosen Unterkiefer, oben ragten nur noch zwei Goldzähne aus dem Zahnfleisch.
»Dann frag deinen Mann doch mal nach seiner Zwillingsschwester.«
Corinna bog um die Ecke. Ihr Blick fiel auf Emmas blasses Gesicht.
»Helga! Erzählst du etwa schon wieder Gruselgeschichten?«, fragte sie streng und stemmte die Arme in die Seiten.
»Pah!«, machte die alte
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