Böser Wolf: Kriminalroman (German Edition)
war viel los. An den Tischen und Bänken, die im Schatten mächtiger alter Bäume standen, war kaum noch ein freies Plätzchen zu finden. Die historische Landgaststätte im Tal zwischen Kelkheim und Fischbach gelegen war bei diesem herrlichen Sommerwetter ein beliebtes Ausflugsziel, tagsüber besonders bei Familien und Spaziergängern. Das war Pia erst eingefallen, als sie die vielen Kinder bemerkte, die ausgelassen und unbeschwert auf dem Spielplatz herumtollten, aber sie war zu sehr mit Staatsanwalt Frey und Kilian Rothemund beschäftigt gewesen, so dass sie nicht daran gedacht hatte. Emma schien das Treiben um sie herum indes gar nicht zu bemerken. Sie stand regelrecht unter Schock. Kein Wunder, für sie war die Situation in mehrfacher Hinsicht katastrophal: Neben der Angst um Louisa kam die Sorge um das ungeborene Kind, dazu der schreckliche Verdacht, ihr Mann könne pädophil sein.
Pia hatte Emma die Telefonnummer einer erfahrenen Therapeutin vom Frankfurter Mädchenhaus gegeben, an die sie sich mit ihrem Verdacht wenden konnte. Missbrauch von Kindern war ein Thema, mit dem Pia sich nie beruflich hatte beschäftigen müssen. Zwar hatte sie die spektakulären Fälle, die immer wieder durch die Medien gingen, verfolgt, aber sie hatte kaum mehr empfunden als eine oberflächliche Betroffenheit. Emma nun so vor sich zu sehen, so verzweifelt, hilflos und voller Sorge um das körperliche und seelische Wohl ihrer kleinen Tochter, hatte sie tief berührt. Vielleicht war sie auch Lillys wegen sensibler geworden. Die Verantwortung, die man als Eltern für so ein kleines Wesen hatte, war enorm. Gegen Gefahren von außen konnte man sein Kind einigermaßen schützen, was aber, wenn der eigene Partner, der Mensch, dem man am meisten vertraute, solch finstere Abgründe offenbarte?
Nach einer Stunde musste Emma aufbrechen, sie wollte ins Krankenhaus zu Louisa. Pia blickte nachdenklich dem Auto ihrer alten Schulfreundin nach und ging zu ihrem eigenen Wagen, den sie weiter unten geparkt hatte. Es war der Ausdruck in Emmas Augen, diese Mischung aus Angst, Zorn und tiefer Verletzung, der sie an Britta Hackspiel denken ließ. Kilian Rothemund war ein verurteilter Kinderschänder, er hatte es bei der Gerichtsverhandlung gegen ihn zwar vehement bestritten, aber die Beweise für seine Schuld waren erdrückend und absolut eindeutig gewesen. Die Staatsanwaltschaft hatte Fotos vorgelegt, die Rothemund in unmissverständlicher Pose nackt im Bett mit kleinen Kindern zeigten, dazu Tausende von Fotos und Dutzende Videofilme der allerschlimmsten Sorte auf seinem Laptop.
Spätestens seitdem man im Labor das Sperma in Hanna Herzmanns Vagina als das Rothemunds identifiziert hatte, war Bodenstein fest davon überzeugt, dass er derjenige war, der Hanna zusammengeschlagen, vergewaltigt und in den Kofferraum ihres Autos gesperrt hatte, vielleicht gemeinsam mit Bernd Prinzler. Noch konnte man über das Tatmotiv der beiden Männer nur spekulieren, doch obwohl die Indizien zumindest eindeutig für die Täterschaft Rothemunds sprachen, hegte Pia einen leisen Zweifel. Hanna Herzmann war eine erwachsene Frau: sechsundvierzig Jahre alt, selbstbewusst, erfolgreich, schön, mit einer sehr weiblichen Figur. Sie verkörperte all das, was einen pädophil veranlagten Mann abturnte. Zorn und Hass mochten eine Erklärung für die unfassbare Brutalität sein, und eine Vergewaltigung hatte nichts mit Lust, sondern mit Gewalt und Dominanz zu tun. Trotzdem störte Pia irgendetwas an der Sache, es erschien ihr als Lösung zu einfach und offensichtlich.
Sie fuhr quer durch Kelkheim, bog hinter den Bahngleisen in der Stadtmitte links ab und folgte dem Gagernring bis zur Bundesstraße. Dort setzte sie den Blinker rechts, entschied sich dann aber anders und bog nach links ab, um durch Altenhain nach Bad Soden zu fahren. Ein paar Minuten später stand sie vor dem Haus, in dem einmal Kilian Rothemund gewohnt hatte. Die Straße war ziemlich zugeparkt, Pia hatte den Dienstwagen oben am Feldrand abstellen und ein Stück laufen müssen. Auf ihr Klingeln öffnete der neue Ehemann von Britta Hackspiel, den Pia gestern nur flüchtig gesehen hatte. Das freundliche Willkommenslächeln auf seinem Gesicht erlosch bei ihrem Anblick.
»Es ist Sonntagnachmittag«, erinnerte er Pia unnötigerweise, als sie nach seiner Frau fragte. »Muss das unbedingt jetzt sein? Wir haben Gäste.«
Unzählige Male hatte man versucht, Pia mit irgendwelchen Ausreden an Haustüren abzuwimmeln, es
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