Böser Wolf: Kriminalroman (German Edition)
vier Zentimeter hohen Absätzen wurde mehr und mehr zur Qual, aber sie konnte schließlich nicht dauernd in Turnschuhen herumlaufen.
»Wenn du auch ein kaltes Bier willst, im Kühlschrank sind noch ein paar Flaschen.«
»Ich mach mir lieber einen grünen Tee. Hast du jetzt etwa mit dem Trinken angefangen?« Meike füllte Wasser in den Wasserkocher, nahm einen Porzellanbecher aus dem Schrank und suchte in den Schubladen, bis sie den Tee gefunden hatte. »Wahrscheinlich ist Vinzenz deshalb abgehauen. Du schaffst es echt, jeden Kerl zu vergraulen.«
Hanna reagierte nicht auf die Provokationen ihrer Tochter. Sie war zu müde, um sich auf ein Wortgefecht einzulassen, wie sie sie früher täglich ausgetragen hatten. Mittlerweile legte sich die schlimmste Aggressivität meistens nach ein paar Stunden, und Hanna versuchte, ihre Ohren so lange auf Durchzug zu schalten.
Meike war ein Scheidungskind, ihr Vater, ein notorischer Besserwisser und Nörgler, war ausgezogen, als sie sechs Jahre alt gewesen war, und hatte sie danach an jedem zweiten Wochenende gründlich verwöhnt und erfolgreich gegen ihre Mutter aufgehetzt. Seine Gehirnwäsche wirkte achtzehn Jahre später noch immer.
»Ich hab Vinzenz gemocht«, sagte Meike nun und verschränkte die viel zu dünnen Ärmchen vor ihrer Brust, die kaum diese Bezeichnung verdiente. »Er war witzig.«
Sie war ein ganz normales Kind gewesen, doch dann hatte sie sich als Teenager beinahe hundert Kilo Kummerspeck angefuttert. Mit sechzehn hatte sie dann quasi aufgehört zu essen, und ihre Magersucht hatte Meike vor ein paar Jahren in eine Klinik für Essgestörte gebracht. Sie hatte mit ihren eins vierundsiebzig gerade noch neununddreißig Kilo auf die Waage gebracht, und eine ganze Weile hatte Hanna jeden Tag mit dem Anruf gerechnet, der ihr verkündete, dass ihre Tochter gestorben sei.
»Ich habe ihn auch mal gemocht.« Hanna trank den letzten Schluck Bier. »Aber wir haben uns auseinandergelebt.«
»Kein Wunder, dass er die Flucht ergriffen hat.« Meike schnaubte verächtlich. »Neben dir kriegt man ja auch keine Luft. Du bist wie ein Panzer, überrollst jeden ohne Rücksicht auf Verluste.«
Hanna seufzte. Sie empfand keine Verärgerung über die verletzenden Worte, nur tiefe Traurigkeit. Diese junge Frau, die sich aus Protest gegen sie beinahe zu Tode gehungert hatte, würde sie niemals wirklich mögen. Und daran war Hanna selbst schuld. In Meikes Kindheit und Jugend war ihr ihre eigene Karriere wichtiger gewesen als ihr Kind, deshalb hatte sie ihrem Exmann das Feld mit einem Gefühl der Erleichterung so gut wie kampflos überlassen. Meike hatte die perfiden Machtspielchen ihres Vaters nie durchschaut, viele Jahre lang hatte sie ihn kritiklos vergöttert. Dass er seine Rache an Hanna auf ihrem Rücken ausgetragen hatte, begriff Meike nicht. Und Hanna hütete sich, das Thema anzuschneiden.
»So siehst du mich also«, sagte sie leise.
»So sieht dich jeder«, entgegnete Meike scharf. »Dir geht es doch immer nur um dich.«
»Das stimmt nicht«, widersprach Hanna. »Ich habe für dich …«
»Ach, hör doch auf!« Meike verdrehte die Augen. »Gar nichts hast du für mich getan! Für dich gab’s immer nur deinen Job und deine Kerle.«
Der Wasserkessel begann zu pfeifen. Meike schaltete ihn ab, goss Wasser in die Tasse und hängte den Teebeutel hinein. Ihre abgehackten Bewegungen verrieten die innere Anspannung, unter der sie stand. Zu gerne hätte Hanna ihre Tochter in den Arm genommen, hätte ihr etwas Nettes gesagt, mit ihr geredet und gelacht, sie nach ihrem Leben gefragt, aber sie tat es nicht, weil sie sich vor Zurückweisung fürchtete.
»Ich habe dir das Bett oben in deinem alten Zimmer bezogen. Handtücher liegen im Bad«, sagte sie stattdessen und stellte die leere Flasche in den Flaschenkorb. »Entschuldige mich bitte. Ich hatte einen anstrengenden Tag.«
»Kein Problem.« Meike sah sie nicht einmal an. »Wann muss ich morgen antreten?«
»Passt es dir um zehn?«
»Ja, geht klar. Gute Nacht.«
»Gute Nacht.« Hanna verkniff sich in letzter Sekunde den Kosenamen aus Kinderzeiten, Mimi, den Meike aus ihrem Munde nicht hören wollte. »Ich freue mich, dass du da bist.«
Keine Antwort. Aber auch keine Beleidigung. Das war schon ein Fortschritt.
*
»Was ist denn hier los?« Pia duckte sich unter dem Absperrband hindurch, nachdem sie sich durch eine aufgeregte Menschenmenge gezwängt hatte.
»Im Sportverein da drüben hatten sie heute Abend ein Sommerfest«,
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