Böser Wolf: Kriminalroman (German Edition)
hatte heute wieder die wettertechnische Oberhoheit, doch wie meistens ging das mit schwüler Luft einher. Spätestens am Abend würde es wieder gewittern. Die grasbewachsenen Feldwege waren von lehmigen Pfützen durchsetzt, die der letzte Regen zurückgelassen hatte. Die Frankfurter Skyline wirkte weiter entfernt als an klaren Tagen, genauso wie die Bergrücken des Taunus im Westen.
Pia steckte die Hände in die Hosentaschen ihrer Jeans und stapfte mit gesenktem Kopf an Zwetschgen- und Apfelbaumspalieren vorbei. Es erschütterte sie zutiefst, dass Bodenstein solche Geheimnisse hatte. Pia kannte und respektierte ihn als einen Mann, der für seine Überzeugungen eintrat, auch wenn sie unpopulär waren, jemanden mit einem ausgeprägten Gerechtigkeitssinn und hohen moralischen Werten, unbestechlich, diszipliniert, fair und gradlinig. Sie hatte seine Nachsicht Behnkes Verfehlungen gegenüber für eine verzeihliche Schwäche gehalten, für Loyalität zu einem langjährigen Mitarbeiter, der in privaten und finanziellen Schwierigkeiten steckte, denn so hatte es Bodenstein vor ihr einmal gerechtfertigt. Nun begriff sie, dass es eine Lüge gewesen war. Von Anfang an hatten sie sich gut verstanden und ergänzt, aber es hatte immer eine gewisse Distanz zwischen ihnen geherrscht. Das hatte sich verändert, als Bodensteins Ehe in die Brüche gegangen war. Seitdem hatte sich ein echtes Vertrauensverhältnis, fast eine Freundschaft zwischen ihnen entwickelt. Zumindest hatte Pia sich das eingebildet, denn offenbar war es mit dem Vertrauen nicht besonders weit her. Sie schrak vor dem Gedanken zurück, ihr Chef könne doch mehr mit der Erik-Lessing-Sache zu tun gehabt haben, als er zugegeben hatte. Sie hatte nicht vor, nichts zu unternehmen, ganz im Gegenteil. Sobald Kathrin ihr den Namen ihres Ex-Lovers genannt hatte, würde sie mit ihm sprechen, ja, sie spielte sogar mit dem Gedanken, Behnke zur Rede zu stellen. Das hatte nichts mit dem alten Fall an sich zu tun, aber ihr Instinkt sagte ihr, dass es einen Zusammenhang zwischen dem dreifachen Auftragsmord, dem Überfall auf Hanna Herzmann und dem Mord an Leonie Verges gab. Es konnte kein Zufall sein, dass Rothemund und Prinzler damals wie heute eine Rolle spielten.
Ihr Handy klingelte. Sie beachtete es erst nicht, aber dann siegte ihr Pflichtbewusstsein. Es war Christian Kröger.
»Wo bist du?«, fragte er.
»Mittagspause«, erwiderte sie knapp. »Wieso?«
»Ich hab dein Auto am Straßenrand stehen sehen. Gestern bin ich nicht mehr dazu gekommen, dir noch etwas zu erzählen. Wann bist du zurück?«
»Um 14 Uhr, 11 Minuten und 43 Sekunden«, erwiderte sie bissig, wie es sonst nicht ihre Art war, und es tat ihr auch sofort leid, denn ausgerechnet Christian hatte es nicht verdient, Blitzableiter für ihre Launen zu sein.
»Entschuldige«, sagte sie deshalb. »Hast du Lust auf einen Spaziergang zwischen malerischen Erdbeerfeldern? Ich brauche etwas Bewegung und frische Luft.«
»Ja, klar. Gerne.«
Pia erklärte ihm, welchen Weg sie gegangen war und setzte sich auf einen Findling, der als Begrenzungsstein dienen mochte. Sie wandte ihr Gesicht der Sonne zu, schloss die Augen und genoss die Wärme auf der Haut. Trillernd schraubte sich eine Lerche in den blauen Himmel. Das konstante Rauschen der Autobahn in der Ferne war ein vertrautes Geräusch, der Birkenhof war höchstens drei Kilometer Luftlinie entfernt und lag direkt an der A66. Christian hatte offenbar nicht dasselbe Bedürfnis nach Bewegung und frischer Luft wie sie; der blaue VW -Bus der Spurensicherung rumpelte über den Feldweg heran. Pia stand auf und ging ihrem Kollegen entgegen.
»Hey«, sagte er und musterte sie prüfend. »Ist irgendwas passiert?«
Seine Feinfühligkeit überraschte sie immer wieder aufs Neue. Er war der Einzige von allen männlichen Kollegen, der sich eine solche Frage gestattete; alle anderen behandelten sie, wie sie sich auch untereinander behandelten. Bevor sich ein Kollege nach Gefühlen oder emotionalen Zuständen erkundigte, hätte er sich wahrscheinlich eher die Zunge abgebissen.
»Komm, lass uns ein Stück gehen«, sagte Pia statt einer Antwort. Eine Weile gingen sie schweigend, Christian pflückte im Vorbeigehen ein paar Zwetschgen und bot ihr welche an.
»Pflaumendieb.« Pia grinste, rieb die Pflaume an ihrer Jeans blank und steckte sie in den Mund. Sie schmeckte köstlich, sonnenwarm und süß und weckte unwillkürlich Kindheitserinnerungen.
»Mundraub ist nicht strafbar.« Christian
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