Böser Wolf: Kriminalroman (German Edition)
wenn ihm ein Fehler unterlaufen war oder er sich erlaubt hatte, eine eigenmächtige Entscheidung zu treffen. Wolfgang redete nie darüber. Überhaupt sprach er nur sehr ungern über sich selbst. Wenn Hanna es richtig bedachte, dann wusste sie kaum etwas über ihn, weil sich immer alles um sie drehte: um ihre Sendung, ihren Erfolg, ihre Männer. In ihrem grenzenlosen Egoismus war ihr das nie aufgefallen, aber jetzt tat es ihr leid. Wie so vieles, was sie in ihrem Leben getan oder nicht getan hatte.
Ihr Hals schmerzte vom Sprechen, ihre Lider wurden schwer.
»Es ist besser, wenn du jetzt gehst«, murmelte sie und wandte den Kopf ab. »Das Reden strengt mich sehr an.«
»Ja, natürlich.« Wolfgang ließ ihre Hand los und erhob sich.
Hannas Augen fielen zu, ihr Geist zog sich von der unerträglich grellen Realität zurück in die dämmerigen Gefilde einer Zwischenwelt, in der sie gesund war und glücklich und … verliebt.
»Leb wohl, Hanna«, hörte sie Wolfgangs Stimme wie aus weiter Ferne. »Vielleicht kannst du mir irgendwann verzeihen.«
*
»Louisa? Louisa!«
Emma hatte die ganze Wohnung abgesucht. Sie war nur kurz auf dem Klo gewesen, und jetzt war die Kleine verschwunden.
»Louisa! Opa und Oma warten auf uns. Oma hat extra für dich eine Rüblitorte gebacken.«
Keine Reaktion. War sie etwa weggelaufen?
Emma ging zur Haustür. Nein, der Schlüssel steckte von innen, die Tür war abgeschlossen. Das machte sie immer so, seitdem sie sich einmal versehentlich ausgesperrt hatte. Louisa war panisch schreiend in der Wohnung herumgelaufen, bis der eilig herbeigerufene Herr Grasser die altmodische Tür mit einem Dietrich geöffnet hatte.
Das konnte doch nicht wahr sein! Emma musste sich zusammenreißen, um nicht die Geduld zu verlieren. Am liebsten hätte sie jetzt geschrien. Immer musste sie Rücksicht nehmen, aber wer nahm überhaupt auf sie Rücksicht?
»Louisa?«
Sie betrat das Kinderzimmer. Der Kleiderschrank war nicht richtig geschlossen. Emma öffnete die Schranktür und zuckte vor Schreck zusammen, als sie ihre Tochter unter aufgehängten Kleidchen und Jacken kauern sah. Sie hatte den Daumen im Mund und starrte blicklos vor sich hin.
»Ach, mein Schatz!« Emma ging in die Hocke. »Was tust du denn hier?«
Keine Antwort. Das Mädchen nuckelte heftiger am Daumen und rieb sich dabei mit dem Zeigefinger ihr Näschen, das schon ganz rot war.
»Möchtest du nicht mit mir runter zu Oma und Opa gehen, Rüblitorte mit Sahne essen?«
Heftiges Kopfschütteln.
»Magst du denn wenigstens aus dem Schrank rauskommen?«
Wieder Kopfschütteln.
Emma fühlte sich hilflos. Ratlos. Was war nur mit dem Kind passiert? War Louisa ein Fall für den Kinderpsychologen geworden? Welche Ängste quälten sie?
»Weißt du was? Ich rufe die Oma an, dass wir nicht kommen. Und dann setze ich mich zu dir und lese dir etwas vor. Okay?«
Louisa nickte zaghaft, ohne sie anzusehen.
Emma erhob sich mühsam und ging zum Telefon. In ihren Kummer mischte sich Zorn. Sollte sie herausfinden, dass Florian ihrem Kind tatsächlich etwas angetan hatte, dann gnade ihm Gott!
Sie rief ihre Schwiegermutter an und entschuldigte ihre Absage für den Tee damit, dass es Louisa nicht gut ginge. Renates enttäuschtes Lamento erstickte sie im Keim, sie hatte keine Lust, sich zu rechtfertigen.
Louisa saß noch immer im Kleiderschrank, als sie zurückkehrte.
»Welches Buch soll ich dir vorlesen?«, fragte Emma.
»Franz Hahn und Johnny Mauser« , nuschelte Louisa, ohne den Daumen aus dem Mund zu nehmen. Emma suchte das Buch aus dem Regal, zog den Sitzsack neben den geöffneten Kleiderschrank und setzte sich hin.
Es war äußerst unbequem, in ihrem Zustand auf dem Boden zu sitzen. Erst schlief ihr das linke, dann das rechte Bein ein. Aber sie las tapfer vor, denn es tat Louisa gut. Sie hörte auf zu nuckeln, und dann kroch sie aus dem Schrank und schmiegte sich in Emmas Arm, um auch ins Buch gucken zu können. Sie lachte und amüsierte sich über die Bilder, die sie auswendig kannte. Als Emma das Buch zuklappte, seufzte Louisa und schloss die Augen.
»Mama?«
»Ja, meine Süße?« Emma streichelte zärtlich die Wange ihrer Tochter. Sie war so klein und arglos, ihre zarte Haut so durchscheinend, dass die Adern an den Schläfen zu sehen waren.
»Ich will nie mehr von dir weggehen, Mama. Ich hab so eine Angst vor dem bösen Wolf.«
Emma stockte der Atem.
»Du musst keine Angst haben.« Sie musste sich bemühen, ihre Stimme ruhig und fest klingen
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