Böser Wolf: Kriminalroman (German Edition)
»Aber geh zu ’nem Arzt, Kumpel. Siehst echt übel aus.«
»Das mach ich«, versicherte Kilian ihm. »Danke noch mal.«
Er kletterte die Treppe hinunter und schlug die Tür zu. Der Lkw rollte an, setzte den Blinker und reihte sich in den laufenden Verkehr ein. Kilian holte tief Luft und blickte sich um, bevor er die Straße überquerte. Sieben Jahre war es her, seit er zuletzt einen Fuß nach Bad Soden gesetzt hatte. Früher war er hier nie ohne Auto unterwegs gewesen, er hatte die stetig ansteigende Strecke von der Alleestraße bis hoch auf den Dachberg unterschätzt. Seine Kehle war wie ausgedörrt, jeder Schritt verursachte ihm Höllenqualen. Erst jetzt, da sein Adrenalinspiegel allmählich sank, spürte er die Folgen der Schläge, Tritte und des Sturzes aus dem Auto. Sie hatten wirklich die Scheiße aus ihm herausgeprügelt, und er hatte gesungen wie eine Nachtigall, aus Angst um seine Tochter. Doch trotz Todesangst und Schmerzen hatte er genügend Geistesgegenwart besessen, um ihnen nicht zu verraten, wohin er das Päckchen mit den Mitschnitten und Protokollen seiner Gespräche mit den beiden Männern aus Amsterdam wirklich geschickt hatte. Sollten sie ruhig vor Hannas Haus auf die Post warten, bis sie schwarz waren!
Eine Dreiviertelstunde brauchte er, bis er vor dem Haus in der Oranienstraße stand, das einmal seines gewesen war. Schweigend verharrte er auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Wie hoch die Buchsbaumhecke geworden war! Auch der Kirschlorbeer und der Rhododendron neben der Haustür waren gewaltig gewachsen. Ein Gefühl der Wehmut zerrte an seinem Herzen, und er fragte sich, wie es ihm gelungen war, die vergangenen Jahre zu überleben. Schon immer war er ein Mensch gewesen, der Ordnung in seinem Leben brauchte, Rituale, feste Ankerpunkte. Alles hatten sie ihm geraubt, nichts war übrig geblieben außer dem Leben selbst, und das war nicht mehr viel wert gewesen. Entschlossen überquerte er die Straße, drückte das Tor auf und stieg die Stufen zur Haustür hoch. Er drückte auf die Klingel, neben der ein fremder Name stand. Britta hatte sich nach der Blitzscheidung sofort einen neuen Versorger gesucht, das wusste er von Chiara, die ihren Stiefvater von Herzen verabscheute. Was für ein Gefühl mochte es für einen Mann sein, sich einfach das Leben seines Vorgängers überzustülpen?
Schritte näherten sich auf der anderen Seite der Tür, Kilian wappnete sich innerlich. Und dann stand Britta vor ihm, zum ersten Mal seit jenem Tag, an dem er von der Polizei abgeholt worden war. Alt war sie geworden. Alt und bitter. Der neue Mann machte sie nicht glücklich.
Kilian erkannte Erschrecken und Entsetzen in ihren Augen und schob rasch den Fuß in den Türspalt, bevor sie ihm die Tür vor der Nase zuschlagen konnte.
»Wo ist Chiara?«, fragte er.
»Verschwinde!«, erwiderte sie. »Du weißt, dass du sie nicht sehen darfst!«
»Wo ist sie?«, wiederholte er.
»Warum willst du das wissen?«
»Ist sie zu Hause? Bitte, Britta, wenn nicht, dann ruf sie an und bitte sie, sofort nach Hause zu kommen!«
»Was soll das? Was geht es dich an, wo die Kinder sind? Wie siehst du überhaupt aus?«
Kilian sparte sich jede Erklärung. Seine Exfrau würde sowieso nichts verstehen, das hatte sie noch nie getan. Für sie war er der Feind, hoffnungslos, Verständnis zu erwarten.
»Willst du sie etwa in deine widerwärtige Schmuddelwelt hineinziehen?«, zischte Britta hasserfüllt. »Hast du nicht schon genug Unglück über uns alle gebracht? Hau ab! Und zwar auf der Stelle!«
»Ich will Chiara sehen«, beharrte er.
»Nein! Jetzt nimm den Fuß aus der Tür, sonst rufe ich die Polizei!« Ihre Stimme wurde schrill. Sie hatte Angst, allerdings nicht vor ihm, sondern eher vor dem Gerede der Nachbarn. Das war ihr auch damals wichtiger gewesen als jede Wahrheit.
»Ja, bitte, tu das.« Kilian zog den Fuß zurück. »Ich bleibe hier. Wenn’s sein muss den ganzen Tag.«
Sie knallte die Tür zu, und er setzte sich auf die oberste Treppenstufe. Besser, die Polizei holte ihn direkt hier ab, als dass er wieder zu Fuß in den Ort hinunterlaufen musste. Die Polizei war seine einzige Chance, Chiara zu schützen.
*
Es hatte keine drei Minuten gedauert, die Hände aus der Fesselung zu befreien. Große Mühe hatte sich der Typ nicht gegeben. Meike rieb ihre schmerzenden Handgelenke. Die schwere Eisentür des Heizungskellers verschluckte jedes Geräusch, deshalb konnte sie nicht hören, was sich oben im Haus abspielte oder
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