Böser Wolf: Kriminalroman (German Edition)
den Kopf. Auch ihm sah man mittlerweile die Anspannung der letzten Stunden an. Unter seinen Augen lagen dunkle Ringe, ein bläulicher Bartschatten bedeckte Kinn und Wangen. »Die muss noch unten im Keller sein. Wir konnten zwei Frauen festnehmen, die gerade mit sechs Kindern in dem Bus wegfahren wollten.«
»Wie viele Leute sind noch da unten?«, wollte Pia wissen.
»Laut Aussage der beiden Frauen nur die Wiesners und Frey«, antwortete Bodenstein. »Und noch vier weitere Kinder.«
»Und Lilly«, ergänzte Pia düster. »Dieses Dreckschwein hat Christoph niedergeschlagen und meine Hunde erschossen. Wenn ich ihn erwische, dann …«
»Du bleibst hier oben, Pia«, unterbrach Bodenstein sie. »Das SEK hat die Sache in die Hand genommen.«
»Nein«, widersprach Pia heftig. »Ich gehe jetzt da runter und hole Lilly raus. Und ich schwöre dir, ich mache keine Gefangenen.«
Bodenstein verzog das Gesicht.
»Du wirst gar nichts tun«, sagte er. »Nicht in einer solchen Gemütsverfassung.«
Pia schwieg. Es hatte keinen Sinn, mit Bodenstein zu diskutieren. Sie musste einen geeigneten Moment abpassen.
»Ist das der Plan des Kellers?« Sie nickte mit dem Kopf in Richtung eines Autos, auf dessen Kühlerhaube ein Gebäudeplan ausgebreitet war, der die weitverzweigten Kellerräume darstellte.
»Ja. Aber du wirst nicht da hinuntergehen«, wiederholte Bodenstein.
»Ich hab’s kapiert.« Pia betrachtete den Plan, den ein Kollege mit seiner Taschenlampe anleuchtete. Sie vibrierte vor Ungeduld. Irgendwo da unten befand sich Lilly in der Gewalt eines Irren, und die quatschten hier oben nur.
»Alle Ausgänge sind unter Kontrolle, da kommt keine Maus ungesehen raus«, erklärte der Einsatzleiter des SEK .
»Das ganze Ding gehört der Finkbeiner Holding«, erklärte Bodenstein gerade. »Sie haben hier ihren Hauptsitz. Außerdem gibt’s da drin noch eine Steuerberatungssozietät, eine Anwaltskanzlei und im Erdgeschoss zwei Arztpraxen und eine Beratungsstelle der Stadt für Jugendliche. Die perfekte Tarnung!«
Zwei Rettungswagen rollten ohne Blaulicht und Sirene in den Hof, um die Kinder, die noch in dem blauen Bus saßen, in ein Krankenhaus zu bringen.
»So können die Herren Kinderschänder selbst am helllichten Tag kommen und gehen, ohne dass es irgendjemandem auffallen würde«, sagte Cem. Das Funkgerät, das Bodenstein in der Hand hielt, knackte und rauschte. Die Hundertschaft der Bereitschaftspolizei hatte das gesamte Grundstück bis hinunter an die Nidda umstellt.
Pia nutzte den Augenblick von Bodensteins Unaufmerksamkeit, huschte über den Hof und betrat das Palais durch den Haupteingang. Zwei Kollegen vom SEK wollten sie daran hindern weiterzugehen, aber nachdem sie ihnen geraten hatte, zur Hölle zu fahren, zeigten sie ihr widerstrebend den Weg zu einer unauffälligen Holztür unter der geschwungenen Freitreppe. Von dem Raum, in dem Putzmittel, Toilettenpapier und Reinigungsgerät gelagert wurden, führte eine weitere Tür hinab in die Katakomben.
»Ich hab gewusst, dass du nicht auf mich hörst«, sagte Bodenstein hinter ihr. Seine Stimme klang atemlos. »Das war ein Befehl, keine Bitte!«
»Dann häng mir ein Disziplinarverfahren an. Ist mir egal.« Pia zog ihre Waffe. Außer ihrem Chef waren Christian und Cem mitgekommen und folgten ihr nun die ausgetretene Treppe hinunter. Der Gang, der sich anschloss, war so schmal, dass ihre Schultern fast die Betonwände berührten. Alle paar Meter sorgte eine Neonröhre für schummerige Beleuchtung. Pia schauderte. Was mussten die Kinder empfunden haben, wenn sie hierhergebracht und diesen Gang entlang geführt wurden? Hatten sie geschrien, sich gewehrt, oder hatten sie sich fatalistisch in ihr grausames Schicksal ergeben? Wie konnte eine kindliche Seele so etwas jemals verkraften?
Der Gang machte einen scharfen Knick, dann ging es ein paar Treppenstufen abwärts, und der Gang wurde breiter und höher. Es roch modrig und feucht. Pia verdrängte jeden Gedanken daran, dass sich über ihr tonnenweise Erde befand.
»Lass mich vorgehen!«, wisperte Christian hinter ihr.
»Nein.« Pia marschierte entschlossen weiter. Jede Zelle ihres Körpers war so randvoll mit Adrenalin, dass sie nichts mehr spürte, weder Angst noch Zorn. Wie oft waren hier irgendwelche Männer entlanggeschlichen, getrieben von ihrer widerwärtigen Obsession? Wie pervers, wie krank musste ein erwachsener Mann sein, der womöglich selbst Kinder hatte, um einem Kleinkind Gewalt anzutun und dabei auch noch
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