Böser Wolf: Kriminalroman (German Edition)
Lust zu empfinden?
Plötzlich hörte sie Stimmen und blieb so abrupt stehen, dass Bodenstein gegen sie prallte.
»Da vorne sind sie«, flüsterte Pia.
»Du bleibst jetzt hier stehen und lässt uns das machen!«, befahl Bodenstein mit gesenkter Stimme. »Wenn du uns folgst, hat das ernsthafte Konsequenzen.«
Laber, laber, dachte Pia und nickte. Sie ließ ihren Chef, Cem und Christian vorbeigehen, wartete dreißig Sekunden und folgte ihnen dann in einen langgestreckten, niedrigen Raum, und was sie dort sah, ließ ihr den Atem stocken. Vor vielen Jahren hatte sie in Frankfurt einen Einsatz in einem Sado-Maso-Club gehabt, da hatte es ähnlich ausgesehen, allerdings mit dem Unterschied, dass die Besucher dieses Clubs erwachsen waren und sich aus freiem Willen ihren seltsamen Gelüsten hingaben. Dies hier allerdings war für den Missbrauch von Kindern eingerichtet worden. Hier war Oksana, die Nixe, gequält und gefoltert worden. Pia spürte beim Anblick der Streckbänke, der Ketten, Handschellen, Käfige und des anderen entsetzlichen Zubehörs das Grauen und die Angst, die sich wie Säure in die Betonmauern gefressen hatten.
»Hände hoch!«, hörte sie Bodenstein rufen und fuhr erschrocken zusammen. »Gehen Sie da rüber an die Wand! Los, los!«
Unter anderen Umständen hätte Pia dem Befehl ihres Chefs gehorcht, aber jetzt konnte sie nicht anders. Ihre Sorge um Lilly war größer als jede Vernunft. Sie trat durch die Tür und stand in einem weiteren großen Raum, in dem sich links und rechts vergitterte Zellen befanden. Ihr Blick streifte eine Gruppe von vier Kindern, nicht viel älter als acht oder neun, die lethargisch vor einer der Zellen standen, ohne sich zu rühren. Christian und Cem hatten ihre Waffen auf einen Mann und eine Frau gerichtet, und Pia erkannte die dunkelhaarige Frau, die heute Morgen versucht hatte, Renate Finkbeiner von ihrem verletzten Mann wegzuziehen. Das also war Corinna Wiesner, die Frau, die sich als Oksanas Mutter ausgegeben hatte! Aber wo war Frey?
»Lilly!«, schrie Pia, so laut sie konnte. »Wo bist du?«
*
Sie hatte sich vor einem Wiedersehen mit ihm gefürchtet. Alles in ihrem Innern hatte sich dagegen gesträubt, so hilflos und hässlich vor ihm in einem Krankenbett zu liegen. Aber als er vorhin gänzlich unverhofft in ihr Zimmer gekommen und sie ohne zu zögern in den Arm genommen und vorsichtig geküsst hatte, da hatten sich alle eitlen Befürchtungen in Luft aufgelöst. Eine ganze Weile hatten sie einfach dagesessen und sich angesehen. Wie bei ihrer allerersten Begegnung in Leonies Küche hatte Hanna zuerst nur seine Augen wahrgenommen, diese außergewöhnlich hellblauen Augen, die eine geradezu magnetische Anziehungskraft auf sie ausübten. Damals waren sie voller Bitterkeit und Verzweiflung gewesen, heute leuchteten sie warm und zuversichtlich. Erst jetzt fiel ihr auf, wie sein Gesicht aussah und dass sein rechter Arm verbunden war.
»Was ist passiert?«, fragte sie leise. Das Sprechen fiel ihr noch immer schwer.
»Das ist eine lange Geschichte«, erwiderte Kilian und drückte mit seiner linken Hand zärtlich ihre Rechte. »Vielleicht findet sie gerade im Moment ihr Ende.«
»Erzählst du sie mir?«, bat Hanna. »Ich kann mich an so vieles nicht erinnern.«
»Dafür ist später noch Zeit.« Seine Finger schlangen sich in ihre. »Du musst jetzt erst mal gesund werden.«
Sie stieß einen tiefen Seufzer aus. Bis zu diesem Moment hatte ihr vor dem Tag gegraut, an dem sie die schützenden Mauern des Krankenhauses verlassen und dem Leben wieder ins Gesicht sehen musste. Nun verschwand auch diese Angst. Kilian war da. Ihm war es egal, wie sie aussah. Selbst wenn sie ihre makellose Schönheit nie mehr hundertprozentig zurückerlangte, so würde er zu ihr stehen.
»Hast du unsere E-Mails noch?«, fragte Hanna.
»Ja. Jede einzelne.« Er lächelte, auch wenn es ihm durch die Blutergüsse nicht ganz leicht fiel. »Ich lese sie immer und immer wieder.«
Hanna erwiderte sein Lächeln.
Auch sie hatte in den letzten Tagen jede seiner Mails auf ihrem neuen iPhone gelesen, sie kannte sie mittlerweile beinahe auswendig. Kilian hatte das Schlimmste erlebt, was einem Menschen widerfahren konnte. Er hatte alles, was sein früheres Leben ausgemacht hatte, verloren und unschuldig im Gefängnis gesessen. Weder die demütigende gesellschaftliche Ächtung noch der Verlust von Status, Besitz und Familie hatten ihn brechen können. Im Gegenteil. Auch Hanna war aus ihrer Welt der
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