Böser Wolf: Kriminalroman (German Edition)
in allen möglichen oder unmöglichen Zuständen gesehen – und gerochen: Wasserleichen, Brandleichen, Skelette, Opfer von Verkehrsunfällen, Unglücken oder schrecklichen Suiziden. Oft hatten Henning und sie am Sektionstisch gestanden und über Alltägliches diskutiert, manchmal sogar gestritten. Nicht zuletzt hatten die ausführlichen Ausflüge in die Forensik unter Anleitung eines so strengen Lehrers wie Henning Pias Blick für die Tatortarbeit geschärft.
Dennoch ließ es Pia nie kalt, wenn sie zu einem Tatort oder Leichenfundort gerufen wurde. Es gab Situationen und Umstände, die so extrem oder grauenhaft waren, dass sie alle Kraft aufbieten musste, um ihre Professionalität zu bewahren. Wie die meisten ihrer Kollegen verstand Pia ihren Job nicht als Mission gegen das Verbrechen auf dieser Welt, aber einer der wichtigsten Gründe, weshalb sie ihre Arbeit gern tat, so frustrierend und deprimierend sie auch oft sein mochte, war der, dass sie das Gefühl hatte, den Toten mit der Aufklärung ihrer Todesumstände Respekt zu erweisen und ihnen wenigstens ein Stück ihrer Menschenwürde zurückgeben zu können. Denn es gab kaum etwas Würdeloseres als eine namenlose Leiche, einen seiner Identität beraubten Menschen, der irgendwo verscharrt oder einfach liegengelassen worden war wie ein Stück Biomüll. Kein Schicksal konnte trauriger sein als das, wochen- oder gar monatelang tot in einer Wohnung zu liegen, ohne von irgendjemandem vermisst zu werden.
Es waren diese glücklicherweise seltenen Fälle, die Pia den wahren Sinn ihrer Arbeit erkennen ließen. Und sie wusste, dass es vielen ihrer Kollegen ebenso ging. Dennoch scheuten viele von ihnen die Rechtsmedizin, deshalb hatte Pia in der Vergangenheit oft freiwillig diese Aufgabe übernommen. Sobald ein Leichnam hier auf dem blanken Seziertisch aus Edelstahl im hellen Neonlicht lag, hatte er seinen Schrecken verloren. Eine Obduktion hatte nichts Düsteres oder Geheimnisvolles an sich, die gerichtliche Leichenöffnung folgte einem strikt vorgegebenen Protokoll, das mit der äußeren Leichenschau begann.
*
Mit dem Motorroller war es eine halbe Weltreise. Obwohl sein Hinterteil nach anderthalb Stunden auf dem Plastiksitz wie Feuer brannte, genoss er die Fahrt. Der warme Fahrtwind streichelte seine Haut, die Sonne auf den nackten Armen tat ihm gut. Er fühlte sich richtig jung. So viele Jahre hatte er keine Zeit oder Gelegenheit gehabt, eine Mopedtour zu unternehmen. Zwanzig Jahre war es sicher her, die Fahrt mit seinem besten Kumpel, an die er sich so gerne erinnerte. Mit ihren Achtzigern waren sie tatsächlich bis an die Nordsee gegurkt, immer nur auf Landstraßen. Nachts hatten sie gezeltet und manchmal auch unter dem klaren Sternenhimmel geschlafen, wenn sie zu faul gewesen waren, das Zelt aufzubauen. Zwar hatten sie nicht viel Geld gehabt, aber sie waren so frei gewesen wie nie zuvor. Und wie auch nachher nie mehr. In jenem Sommer hatte er am Strand von St. Peter-Ording Britta kennengelernt und sich auf den ersten Blick in sie verliebt. Sie kam aus Bad Homburg, und nach dem Urlaub hatten sie sich weiter getroffen. Er war Jurastudent, hatte gerade das erste Staatsexamen bestanden, sie hatte gerade ihre Ausbildung zur Groß- und Einzelhandelskauffrau beendet und arbeitete in einem Kaufhaus in der Abteilung für Damenoberbekleidung.
Kein halbes Jahr später hatten sie geheiratet. Ihre Eltern hatten sich nicht lumpen lassen und ihnen eine wahre Traumhochzeit ausgerichtet. Standesamt, Kirche, eine Kutsche mit vier Schimmeln davor. Eine Feier mit zweihundert Gästen im Bad Homburger Schloss. Hochzeitsfotos im Park unter der mächtigen Zeder. Flitterwochen auf Kreta. Nach dem zweiten Staatsexamen hatte er eine Anstellung in einer der besten Kanzleien Frankfurts bekommen, Wirtschafts- und Steuerstrafrecht. Er hatte richtig gut verdient, sie hatten sich einen Bauplatz kaufen und ihr Traumhaus bauen können. Dann war ihre Tochter zur Welt gekommen, die er über alles liebte, später der Sohn. Alles war perfekt gewesen. An den Sommerabenden hatten sie mit Freunden und Nachbarn gegrillt, im Winter waren sie zum Skilaufen nach Kitzbühel gefahren, im Sommer nach Mallorca oder nach Sylt. Er hatte promoviert, war Partner geworden – mit knapp dreißig Jahren – und hatte sich auf Strafrecht spezialisiert. Seine Mandanten waren nun nicht mehr Steuerhinterzieher oder fehlgeleitete Wirtschaftsbosse, sondern Mörder, Entführer, Erpresser, Vergewaltiger, Drogenhändler und
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