Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Böser Wolf: Kriminalroman (German Edition)

Böser Wolf: Kriminalroman (German Edition)

Titel: Böser Wolf: Kriminalroman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nele Neuhaus
Vom Netzwerk:
Schultern. »Ich muss gleich die Kids von der Schule abholen. Aber du wirst schon allein klarkommen.«
    *
    »Einundvierzig komma vier Kilogramm Körpergewicht bei einer Körpergröße von einsachtundsechzig«, sagte Professor Kronlage gerade. »Das ist eine massive Unterernährung.«
    Der ausgemergelte Körper des Mädchens war übersät mit Narben, alten und relativ frischen. Im grellen Licht der Neonlampen wurden sie deutlich sichtbar, die Brandwunden, Prellungen, Kratzspuren und Blutergüsse – erschütternde Zeugnisse jahrelanger Misshandlungen, die das Mädchen erlitten hatte.
    Eine junge Frau betrat den Raum.
    »Die Bilder«, sagte sie nur und drängte sich unhöflich an Bodenstein und Pia vorbei, ohne zu grüßen. Sie setzte sich an den Computer, der auf einem kleinen Tisch an der Wand stand, und tippte auf der Tastatur herum. Wenig später war das Skelett des toten Mädchens auf dem Bildschirm zu sehen. Die Zeiten, in denen schwarzweiße Röntgenaufnahmen an Leuchtkästen geklippt wurden, waren mittlerweile passé.
    Kronlage und Kirchhoff unterbrachen die äußere Leichenschau, traten an den Computer und analysierten das, was sie dort sahen: Knochenbrüche im Gesicht, an Rippen und Extremitäten, ähnlich wie die äußerlichen Verletzungen teilweise alt und verheilt, aber teilweise frisch. Vierundzwanzig Frakturen waren zu erkennen.
    Pia schauderte bei der Vorstellung daran, welch entsetzliches Martyrium dieses Mädchen hinter sich hatte. Doch wichtiger als die Brüche waren den Rechtsmedizinern verschiedene Reifemerkmale des Skeletts. Verknöcherungen der Wachstumsfugen am Schädelknochen und an den Gelenkenden der langen Röhrenknochen ließen eine erste Altersschätzung zu.
    »Sie war mindestens vierzehn, aber höchstens sechzehn Jahre alt«, sagte Henning Kirchhoff schließlich. »Aber das können wir uns gleich genauer ansehen.«
    »Auf jeden Fall ist das Kind über Jahre hinweg misshandelt worden«, ergänzte Professor Kronlage. »Dazu ist die abnorme Hautblässe und das laut Laborbefund beinahe völlige Fehlen von Vitamin D im Blut auffällig.«
    »Inwiefern auffällig?«, erkundigte sich der junge Staatsanwalt.
    »Das sogenannte Vitamin D ist eigentlich kein wirkliches Vitamin, sondern ein neuroregulatives Steroidhormon.« Kronlage sah ihn über den Rand seiner Halbbrille an. »Der menschliche Körper bildet es, sobald die Haut der Sonne ausgesetzt wird. Heutzutage nimmt Vitamin-D-Mangel weltweit fast epidemische Ausmaße an, denn Hautärzte und Gesundheitsbehörden schüren die Hysterie vor Hautkrebs und raten, der Sonne fernzubleiben oder Sonnenschutzpräparate mit einem Lichtschutzfaktor von dreißig oder mehr zu benutzen. Dabei ist …«
    »Was hat das mit dem toten Mädchen zu tun?«, unterbrach ihn Tanouti ungeduldig.
    »Hören Sie mir doch einfach zu«, wies Kronlage ihn zurecht.
    Der Staatsanwalt akzeptierte die Rüge stumm, zuckte nur die Achseln.
    »Ein Wert von fünfzehn bis achtzehn Nanogramm pro Milliliter Blut, wie er nach den Wintermonaten in einer Reihenuntersuchung in den USA festgestellt wurde, gilt bereits als ausgeprägter Mangel. Optimal sind fünfzig bis fünfundsechzig Nanogramm pro Milliliter Blut«, fuhr der Professor fort. »Im Blutserum dieses Mädchens wurden vier Nanogramm pro Milliliter festgestellt.«
    »Und? Was schließen wir daraus?« Tanoutis Stimme klang noch etwas ungeduldiger.
    »Was Sie daraus schließen, weiß ich nicht, junger Mann«, entgegnete Kronlage gelassen. »Für mich ergibt sich aus dieser Tatsache, verbunden mit der Hautblässe und der auf den Röntgenbildern erkennbar porösen Knochenstruktur, die Annahme, dass das Mädchen über einen sehr langen Zeitraum keinem Sonnenlicht ausgesetzt war. Das kann bedeuten, das Mädchen wurde gefangen gehalten.«
    Einen Moment lang war es ganz still. Ein Handy begann zu klingeln.
    »Entschuldigung«, sagte Oberstaatsanwalt Frey und verließ den Raum.
    Der Allgemeinzustand des Mädchens war sehr schlecht, ihr Körper extrem unterernährt und dehydriert, ihre Zähne waren kariös und hatten nie einen Zahnarzt gesehen. Damit entfiel die Möglichkeit, anhand des Zahnstatus die Identität festzustellen.
    Die äußere Leichenbesichtigung war abgeschlossen, nun begann die eigentliche Sektion. Mit einem Skalpell schnitt Kronlage von einem Ohr zum anderen, dann klappte er die Kopfhaut nach vorne und überließ es einem Assistenten, mit der Oszillationssäge den Schädel zu öffnen, um das Gehirn zu entnehmen. Gleichzeitig

Weitere Kostenlose Bücher