Böser Wolf: Kriminalroman (German Edition)
öffnete Henning Brust- und Bauchhöhle mit einem einzigen senkrechten Schnitt vom Hals bis zur Hüfte. Rippen und Brustbein wurden mit der Knochensäge durchtrennt, die entnommenen Organe auf einem kleinen Metalltisch oberhalb des Sektionstisches sofort untersucht und Gewebeproben genommen. Zustand, Größe, Form, Farbe und Gewicht eines jeden Organs wurden festgestellt und protokolliert.
»Was haben wir denn hier?«, fragte Henning eher sich selbst als die Anwesenden. Er hatte den Magen aufgeschnitten, um Proben des Mageninhalts zu entnehmen.
»Was ist das?«, erkundigte Pia sich.
»Sieht aus wie … Stoff.« Henning glättete einen der schmierigen Brocken mit zwei Pinzetten und hielt den Fetzen gegen das helle Licht. »Es hat durch die Magensäure ziemlich gelitten. Na ja, vielleicht können die im Labor etwas mehr erkennen.«
Ronnie Böhme hielt ihm einen Asservatenbeutel hin und beschriftete ihn sofort.
Die Minuten vergingen, wurden zu Stunden. Der Oberstaatsanwalt war nicht mehr aufgetaucht. Die Rechtsmediziner arbeiteten konzentriert und akribisch, und Henning, der für das Protokoll zuständig war, sprach die Befunde in das Mikrophon, das er um den Hals trug. Es war vier Uhr nachmittags, als Ronnie Böhme die sezierten Organe in den Leichnam zurücklegte und die Schnitte zunähte. Die Obduktion war damit beendet.
»Die Todesursache war eindeutig Ertrinken«, fasste Henning bei der Schlussbesprechung zusammen. »Allerdings liegen schwerste innere Verletzungen vor, hervorgerufen durch Tritte oder Schläge gegen Bauch, Brust, Extremitäten und den Kopf, die früher oder später ebenfalls zum Tode geführt hätten. Rupturen von Milz, Lunge, Leber und Mastdarm. Außerdem weisen die massiven Verletzungen an Vagina und Anus darauf hin, dass das Mädchen noch kurz vor seinem Tode sexuell missbraucht wurde.«
Bodenstein hörte schweigend und mit versteinerter Miene zu. Hin und wieder nickte er, stellte aber keine Fragen. Kirchhoff blickte ihn an.
»Tja, tut mir leid, Bodenstein«, sagte er. »Ein Suizid ist auszuschließen. Aber ob es sich um einen Unfall handelt oder um einen Mord, das herauszufinden ist jetzt eure Sache.«
»Warum hältst du einen Suizid für ausgeschlossen?«, wollte Pia wissen.
»Weil …«, begann Henning, aber weiter kam er nicht.
»Dr. Kirchhoff«, unterbrach ihn der junge Staatsanwalt, der es plötzlich eilig zu haben schien. »Ich will den Obduktionsbericht von Ihnen morgen früh auf dem Schreibtisch haben.«
»Aber selbstverständlich, Herr Staatsanwalt. Morgen früh liegt er bei Ihnen im Posteingangskörbchen.« Henning lächelte übertrieben liebenswürdig. »Soll ich ihn auch eigenhändig abtippen?«
»Von mir aus.« Staatsanwalt Tanouti war von seiner eigenen Wichtigkeit so geblendet, dass er gar nicht bemerkte, wie er sich in Sekundenschnelle zum wohl unbeliebtesten Mitarbeiter seiner Behörde machte. »Dann können wir der Presse mitteilen, dass das Mädchen im Fluss ertrunken ist.«
»Das habe ich nicht gesagt.« Henning zog die Latexhandschuhe von den Händen und warf sie in den Mülleimer neben dem Waschbecken.
»Wie bitte?« Der junge Mann machte einen Schritt zurück in den Sektionsraum. »Sie haben doch gerade eben gesagt, das Mädchen sei eindeutig ertrunken.«
»Ja, so ist es auch. Aber Sie haben mich unterbrochen, bevor ich erklären konnte, weshalb ich einen Suizid für ausgeschlossen halte. Sie ist nämlich nicht im Main ertrunken.«
Pia sah ihren Exmann verblüfft an.
»Bei Ertrinken in Süßwasser ist das Lungengewebe so stark überbläht, dass es bei der Öffnung des Brustkorbes herausquillt. Wir nennen dieses Phänomen Emphysema aquosum . Das ist aber hier nicht der Fall gewesen. Stattdessen hatte sich ein Lungenödem gebildet.«
»Und was heißt das jetzt auf Deutsch?«, blaffte der Staatsanwalt gereizt. »Ich brauche keine rechtsmedizinische Lehrstunde, sondern Fakten!«
Henning musterte ihn geringschätzig. In seinen Augen glomm ein ironischer Funke. Staatsanwalt Tanouti hatte es sich bis in alle Ewigkeit mit ihm verscherzt.
»Etwas profundere Kenntnisse auf dem Gebiet der Forensik sind nie von Nachteil«, sagte er mit einem sardonischen Lächeln. »Ganz besonders dann, wenn man sich im Blitzlichtgewitter der Presse profilieren möchte.«
Der junge Staatsanwalt lief rot an und machte einen Schritt auf Henning zu, musste dann aber eilig zurückweichen, weil Ronnie Böhme die Bahre mit der Leiche des Mädchens direkt auf ihn zuschob.
»Ein
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