Böser Wolf: Kriminalroman (German Edition)
Leonie kurz davor gewesen, die Therapie abzubrechen und aufzugeben, doch dann hatte sie begriffen, was mit ihrer komplizierten Patientin wirklich los war: Michaelas Ich bestand aus vielen verschiedenen Persönlichkeitsanteilen, die unabhängig voneinander existierten. Hatte ein Persönlichkeitsanteil die Kontrolle über ihr Bewusstsein übernommen, waren andere vollständig in den Hintergrund gedrängt, ja, sie wussten nicht einmal voneinander.
Michaela selbst war von Leonies Diagnose völlig schockiert gewesen, hatte voller Abwehr reagiert, aber es gab keinen Zweifel. Nach dem Klassifikationssystem der American Psychiatric Association , der DSM-IV , gehörte ihr Krankheitsbild zur schwersten Form der Dissoziation; Michaela litt unter einer multiplen Persönlichkeitsstörung, die auch als dissoziative Identitätsstörung bezeichnet wurde.
Zwei Jahre hatte es gedauert, bis Leonie endlich herausgefunden hatte, was mit Michaela los war, doch dann wurde es erst richtig schwierig, denn ihre Patientin wollte zuerst nicht akzeptieren, dass die großen Zeiträume, die ihr in ihrer Erinnerung fehlten, von anderen Teilen ihres Ichs erlebt worden waren. Sehr früh war Leonie klar gewesen, dass die Frau Entsetzliches erlebt haben musste, das zu dieser extremen Aufspaltung ihrer Persönlichkeit geführt hatte, und tatsächlich war das Bild, das sich schließlich aus Dutzenden von Erinnerungsbruchstücken ergab, so grausam und schrecklich, dass Leonie oft versucht gewesen war, am Wahrheitsgehalt dieser Geschichte zu zweifeln. Unmöglich, dass ein Mensch so etwas er- und überleben konnte! Michaela hatte es überlebt, indem ihre Seele schon in frühester Kindheit diese Erlebnisse abgespalten, also dissoziiert hatte. Auf diese Weise konnten besonders Kinder traumatische Ereignisse wie Krieg, Mord, schwere Unfälle und Katastrophen ertragen.
Nach über zehn Jahren war Michaela nicht geheilt, aber sie wusste, was mit ihr los war, was einen »Switch«, wie man das Umschalten von einer Identität zur anderen bezeichnete, auslöste, und kam damit zurecht. Sie hatte gelernt, die anderen Persönlichkeitsanteile zu akzeptieren. Jahrelang hatte sie völlig normal gelebt. Bis zu dem Tag, an dem das tote Mädchen im Main gefunden worden war.
Leonie ergriff ihr Telefon. Sie musste Hanna Herzmann erreichen, denn Michaela konnte hier nicht ewig im Hof sitzen und auf sie warten. Der Entschluss, den sie vor drei Wochen gefasst hatte, war mutig – und gefährlich zugleich. Die Entscheidung, die ganze Geschichte in die Öffentlichkeit zu bringen, konnte für alle Beteiligten schwerwiegende Folgen haben, aber Michaela und alle anderen waren sich dieser Gefahr bewusst.
Das Handy von Hanna war noch immer ausgeschaltet, Leonie versuchte es wieder unter ihrer Festnetznummer. Fünf Mal tutete es, dann wurde abgenommen.
»Herzmann.«
Eine Frauenstimme, aber nicht die von Hanna.
»Äh … ist … äh … könnte ich Hanna Herzmann sprechen?«, stammelte Leonie überrascht.
»Mit wem spreche ich?«
»Verges. Ich … äh … Frau Herzmann ist bei mir in Behandlung. Sie hätte um sechzehn Uhr einen Termin gehabt.«
»Meine Mutter ist nicht da. Tut mir leid.«
Bevor Leonie noch etwas sagen konnte, hörte sie nur noch das Besetztzeichen. Die Frau, offenbar Hannas Tochter, hatte einfach aufgelegt. Seltsam. Besorgniserregend. Leonie konnte Hanna Herzmann zwar nicht besonders gut leiden, aber nun machte sie sich ernsthafte Sorgen. Irgendetwas musste passiert sein. Etwas, das so gravierend war, dass es Hanna davon abhielt, zu diesem wichtigen Termin zu kommen. Denn heute hätte sie Michaela das erste Mal persönlich treffen sollen.
*
»Frau Herzmann?« Die Bullentante klopfte an die Tür des Gäste- WC . »Ist alles in Ordnung?«
»Ja«, erwiderte Meike und drückte auf die Klospülung.
»Wir gehen jetzt«, sagte die Polizistin. »Kommen Sie bitte heute noch nach Hofheim aufs Kommissariat, damit wir Ihre Aussage zu Protokoll nehmen können.«
»Ja. Mach ich.«
Meike betrachtete ihr Gesicht im Spiegel über dem Waschbecken und verzog den Mund. Fleckige Haut, geschwollene Lider, verschmierte Mascara – sie sah zum Kotzen aus. Ihre Hände zitterten, und noch immer hatte sie ein Pfeifen im Ohr, vielleicht hatte der Schuss, der keine fünfzehn Meter von ihr entfernt abgefeuert worden war, ihre Trommelfelle zerfetzt. Der Förster hatte ihr das Leben gerettet, dabei hatte er ihr eigentlich den Marsch blasen wollen, weil sie mit ihrem Auto mitten in
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