Böser Wolf: Kriminalroman (German Edition)
Norman, der ehemalige Mitarbeiter.«
»Genau.«
»Mit dem müssen wir jetzt sofort reden.«
Sie setzten den Rundgang durch das Haus fort, fanden im Obergeschoss aber nichts, was darauf hindeutete, dass auch hier ein Fremder gewesen war. Im Schlafzimmer war das Bett unbenutzt, Kleider hingen herum und im Bad war auch nichts Ungewöhnliches festzustellen. Die anderen Zimmer schienen unberührt. Im Keller gab es eine Sauna, einen Heizungskeller, einen Hauswirtschaftsraum, ein Hallenschwimmbad und einen Raum, in dem neben einer Kühltruhe Regale voller Kartons standen. Bodenstein und Pia machten sich wieder auf den Weg nach oben.
»Was ist denn hier los?« In der geöffneten Haustür stand eine junge, dunkelhaarige Frau und blickte sich konsterniert um. »Was soll das? Was tun Sie hier?«
Bodenstein und Pia nahmen die Kapuzen ab.
»Wer sind Sie?«, fragte Pia, obwohl sie das Gesicht sofort erkannt hatte. Hanna Herzmanns Tochter hatte sich vom pubertären Trotzkopf auf den Fotos im Arbeitszimmer ihrer Mutter zu einer jungen Erwachsenen entwickelt. Sie sah so aus, als habe sie geweint. Der verwischte Eyeliner hatte schwarze Flecken auf ihren Wangen hinterlassen. Wusste sie etwa schon Bescheid?
»Wer sind denn Sie ?«, entgegnete Meike Herzmann in einem herrischen Tonfall, der diese Annahme Lügen strafte. »Können Sie mir das hier mal erklären?«
Ihrer Mutter sah sie nicht ähnlich. Mit den grauen Augen und dem aschblonden Haar wirkte sie farblos, in ihrem Gesicht passte nichts richtig zusammen: Das Kinn war zu spitz, die Nase zu lang, die Augenbrauen zu kräftig. Bemerkenswert war einzig ihr Mund mit sehr vollen Lippen und perfekten schneeweißen Zähnen, unzweifelhaft das Ergebnis eines jahrelangen Zahnspangenmartyriums.
»Ich bin Pia Kirchhoff von der Kriminalpolizei Hofheim. Das ist mein Chef, Kriminalhauptkommissar Bodenstein. Und Sie sind Meike Herzmann?«
Die junge Frau nickte, verzog das Gesicht und kratzte sich am Oberarm. Ihre Arme, kaum dicker als die eines zwölfjährigen Kindes, waren stark gerötet und voller Pusteln, womöglich litt sie unter Neurodermitis.
»Wohnen Sie hier?«
»Nein. Bin nur den Sommer über hier.« Während sie sprach, folgten ihre Augen den Beamten der Spurensicherung, die im Haus herumliefen. »Also, was ist hier los?«
»Ihrer Mutter ist etwas zugestoßen …«, begann Pia.
»Ach?« Meike Herzmann blickte sie an. »Ist sie tot?«
Für einen Moment war Pia geschockt über die mitleidslose gleichgültige Kälte, mit der sie diese knappe Frage so spontan hervorgebracht hatte.
»Nein, sie ist nicht tot«, übernahm Bodenstein. »Sie wurde überfallen und vergewaltigt.«
»Das musste ja mal kommen.« Der Blick der jungen Frau war hart wie Granit, sie schnaubte geringschätzig. »So, wie meine Mutter ihr Leben lang mit den Männern umgesprungen ist, wundert mich das gar nicht.«
*
Leonie Verges schaute verärgert auf die Uhr. Seit einer halben Stunde warteten sie nun auf Hanna Herzmann. Hätte sie nicht wenigstens kurz per SMS Bescheid geben können, dass sie sich verspäten würde? Auf den heutigen Tag hatten sie seit Wochen hingearbeitet, sie selbst seit Monaten, wenn nicht gar Jahren.
Als Leonie ihre Patientin Michaela damals, vor elf Jahren, in der Psychiatrischen Klinik in Eltville kennengelernt hatte, hatte sie nicht geahnt, welch große Aufgabe diese Frau werden sollte. Sie hatte schon früh nach ihrem Studium damit begonnen, mit traumatisierten Menschen zu arbeiten, aber ihr war bis dahin noch niemand mit einem so ungewöhnlichen Krankheitsbild begegnet. Michaela hatte einen großen Teil ihres Lebens in psychiatrischen Kliniken verbracht, doch die schwammigen Diagnosen reichten von Schizophrenie über paranoide Persönlichkeitsstörung, autoaggressive Charakterneurose, schizoaffektive Störungen bis hin zu Autismus. Jahrzehntelang war die Frau mit stärksten Psychopharmaka behandelt worden, ohne dass tatsächlich festgestellt worden war, woher ihr krankhaftes Verhalten wirklich kam und was die Schübe jeweils auszulösen vermochte.
In zahllosen Gesprächen hatte Leonie schließlich in Bruchstücken erfahren, was Michaela widerfahren war. Es hatte sie auf eine harte Geduldsprobe gestellt, dass die Frau keine durchgängige Erinnerung zu haben schien; an manchen Tagen schien ein völlig anderer Mensch vor ihr zu sitzen, der sich anders benahm und anders sprach, nicht mehr wusste, worüber sie in der letzten Therapiestunde gesprochen hatten. Mehr als einmal war
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