Böser Wolf: Kriminalroman (German Edition)
mit denen sie über so was sprechen konnte, hatte sie keine. Mit einem Stück Klopapier wischte sie sich die Tränen ab, dann rief sie das Telefonbuch auf, scrollte von A abwärts. Bei einem Namen blieb sie hängen. Natürlich! Einen Menschen gab es, den sie anrufen konnte! Warum hatte sie nicht eher daran gedacht?
*
Der soziale Abstieg des Vinzenz Kornbichler war immens. Von der großzügigen Villa am Waldrand hatte ihn das Schicksal auf die Schlafcouch einer Zwei-Zimmer-Wohnung im dreizehnten Stock eines Wohnsilos im Schwalbacher Limesviertel katapultiert. Als er die Tür öffnete und vor ihnen stand, konnte Pia nachvollziehen, was Hanna Herzmann an dem Mann gefallen haben mochte, zumindest rein optisch. Vinzenz Kornbichler war etwa Anfang vierzig und zweifellos attraktiv, auf eine kernige, jungenhafte Art: braune Hundeaugen, dichtes dunkelblondes Haar, ein sympathisches, ja hübsches Gesicht.
»Kommen Sie rein.« Sein Händedruck war fest, der Blick direkt. »Ich kann Sie leider nicht ins Wohnzimmer bitten, ich hab hier nur vorübergehendes Asyl.«
Bodenstein und Pia folgten ihm in ein kleines, spärlich möbliertes Zimmerchen. Schlafcouch, Schrank und ein kleiner Schreibtisch, an der Wand ein schmaler Spiegel, hinter der Tür ein zusammengeklapptes Bügelbrett und ein Wäscheständer.
»Seit wann wohnen Sie hier?«, erkundigte sich Pia.
»Seit ein paar Wochen«, antwortete Vinzenz Kornbichler.
»Und warum? Sie und Ihre Frau haben doch ein schönes Haus.«
Kornbichler verzog das Gesicht. Die muskulösen Oberarme verrieten zahllose Stunden im Fitnessstudio, seine gepflegte Kleidung und die sorgfältig manikürten Hände zeigten, dass er großen Wert auf sein Äußeres legte.
»Meine Frau ist meiner überdrüssig geworden«, sagte er leichthin, doch in seiner Stimme schwang ein bitterer Unterton mit. »Sie neigt dazu, alle paar Jahre ihre Männer auszutauschen. Wegen einer Lappalie hat sie mich vor die Tür gesetzt und alle Konten gesperrt. Nach sechs Jahren, in denen ich alles für sie getan habe.«
»Was war das für eine Lappalie?«, wollte Pia wissen.
»Hach, völlig unwichtig, so ’n kleiner Seitensprung, hat sie ein Riesendrama draus gemacht«, erwiderte er ausweichend und sah an ihr vorbei in den Spiegel. Ihm schien zu gefallen, was er da sah, denn er lächelte zufrieden.
Auf den Grund seines Rauswurfs aus dem Paradies ging er nicht weiter ein, dafür beklagte er sich über die ungerechte Behandlung, die ihm widerfahren war, und schien überhaupt nicht zu merken, wie verdächtig er sich mit jedem Wort machte.
»Das klingt so, als seien Sie ziemlich wütend«, stellte Pia fest.
»Natürlich bin ich sauer«, gab Vinzenz Kornbichler zu. »Meiner Frau zuliebe habe ich meine Firma aufgegeben, und jetzt stehe ich da, ohne Wohnung, ohne Geld, ohne alles! Und sie geht nicht mal mehr ans Telefon, wenn ich sie anrufe.«
»Wo waren Sie gestern Nacht?«, wollte Bodenstein wissen.
»Gestern Nacht?« Kornbichler sah ihn überrascht an. »Wann?«
»Zwischen dreiundzwanzig Uhr und drei Uhr morgens.«
Der Mann von Hanna Herzmann furchte nachdenklich die Stirn.
»Ich war in einem Bistro in Bad Soden«, sagte er nach kurzem Nachdenken. »Ab halb elf ungefähr.«
»Bis wann?«
»Ich weiß nicht genau. Halb eins, eins vielleicht. Wieso wollen Sie das wissen?«
»Gibt es Zeugen dafür, dass Sie dort gewesen sind?«
»Ja, natürlich. Ich war mit ein paar Kumpels dort. Und die Bedienung kann sich ganz sicher auch an mich erinnern. Ist etwas passiert?«
Pia warf ihm einen scharfen Blick zu. Seine Arglosigkeit schien echt, aber vielleicht war er auch einfach nur ein guter Schauspieler. Konnte es sein, dass er überhaupt nicht wusste, was geschehen war, und weshalb sie mit ihm hatten sprechen wollen?
»Was für ein Auto fahren Sie?«, fragte Pia.
»Einen Porsche. Einen 911er, S 4, Cabrio.« Vinzenz Kornbichler grinste unfroh. »Bis sie mir auch den abnimmt.«
»Und wo waren Sie, bevor Sie nach Bad Soden gefahren sind?« Bodenstein stellte genau die Frage, die Pia als Nächstes hatte stellen wollen. Manchmal, dachte Pia mit einem Anflug von Belustigung, waren Bodenstein und sie wie ein altes Ehepaar. Eigentlich kein Wunder, nach Hunderten von gemeinsamen Vernehmungen und Befragungen.
Die Frage war Kornbichler sichtlich unangenehm.
»Ich bin ein bisschen durch die Gegend gefahren«, wich er aus. »Warum ist das wichtig?«
»Ihre Frau ist gestern überfallen und vergewaltigt worden«, sagte Pia nun. »Man
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