Böses Blut
auf ziemlich schwachen Füßen. Es war unter den gegebenen Umständen eine spontan gezogene Schlußfolgerung, sie beruht aber auf dem banalen Umstand, daß Hassel kein Flugticket bei sich hatte. Dann wurde die schnelle These zu einem Axiom. Wir wissen nicht einmal, wann Hassel ermordet wurde. Er kann durchaus auf dem Flughafen einen Rappel gekriegt haben, ihm ist noch was eingefallen, was er tun mußte, und er beschließt, noch eine Nacht zu bleiben. Vielleicht war er selbst es, der angerufen und seinen Flug abbestellt hat. Dann warf er das Ticket weg. Vielleicht blieb er noch eine Weile und trank ein paar Schnäpse. Und auf dem Weg zum Klo wird er überfallen und ermordet. In der Zwischenzeit ist ein jüngerer Verbrecher mit falschem Paß am Flughafen angekommen, vielleicht auf der Flucht vor irgendwelchen Buchmachern, die nicht gut auf ihn zu sprechen sind, oder etwas in der Art, und nimmt den erstbesten Flug nach Europa, für den noch ein Platz zu kriegen ist. Die Maschine nach Stockholm hebt in zwölf Minuten ab, und die nimmt er. Wenn es so wäre, hätte der Kentuckymörder das Land nie verlassen. Klingt das unsinnig?«
Hultin blickte sich im Raum um. Weil keiner den Mund aufmachte, mußte er selbst die Einwände formulieren. Und er tat es mit Nachdruck: »Abgesehen davon, daß es zu viele Zufälle sind, klingt es reichlich bizarr, daß Hassel zum Flughafen gefahren sein sollte, es sich anders überlegt, sich nicht darum schert, eine Stunde vor Abflug einzuchecken, wie es Vorschrift ist, mindestens eine halbe Stunde wartet und dann anruft und den Platz abbestellt, statt einfach zum Schalter zu gehen.«
»Für mich hört es sich nach klassischem Alkoholikerverhalten an«, sagte Gunnar Nyberg. »Er kam vielleicht zu spät an, irrte umher, entdeckte, daß er das Einchecken verpaßt hatte, glaubte, damit auch die Maschine verpaßt zu haben, und rief den Schalter an, um nicht mit der offenen Verachtung des Bodenpersonals konfrontiert zu werden. Dann ließ er sich am Flughafen weiter vollaufen und fing Streit mit der falschen Person an. So würde Jorges Theorie besser funktionieren.«
»Das Problem ist«, sagte Hultin trocken, »daß die Obduktion keinen nennenswerten Alkoholgehalt im Blut ergeben hat. Und keine Drogen. Das könnte man wissen, wenn man die Anordnung befolgt und Larners Bericht gelesen hätte.«
»Was war mit seinem Gepäck?« fragte Nyberg, wie um die These von der mangelhaften Belesenheit zu bekräftigen.
»Das wurde neben ihm gefunden, was das Bild von der Kaltschnäuzigkeit des Mörders bestätigt. Er schaffte Hassel nicht nur mitten im Menschengewimmel von Newark geräuschlos in eine Besenkammer; er bekam sogar noch das Gepäck mit hinein.«
Er seufzte und resümierte: »Versuchen wir jetzt, eiskalt und logisch zu sein. Die Stornierung kam siebzehn Minuten vor dem Abflug. Das Personal ging selbstverständlich davon aus, daß es Hassel selbst war, der anrief, und daß er von außerhalb anrief. Wenn es so war, daß er von außerhalb anrief und stornierte, warum hätte er dann zum Flughafen fahren sollen? Denn das tat er offenbar: Einerseits ergibt die Tatortuntersuchung, daß die Besenkammer aller Wahrscheinlichkeit nach der Tatort war, andererseits wäre es unmöglich gewesen, eine Leiche durch eine belebte Flughafenhalle zu transportieren. Okay? Also bleiben zwei Möglichkeiten: Zum einen, daß er selbst vom Flugplatz aus anruft, was jedoch in sich absurd ist, weil er dann nämlich erstens die Maschine noch bekommen hätte – das schaffte ja der fünf Minuten später kommende Reynolds –, oder zweitens einen Rappel gekriegt und es sich im letzten Moment anders überlegt haben müßte, und warum dann überhaupt anrufen – wenn man nüchtern war? Warum dann nicht einfach umkehren und ein Taxi nach Manhattan nehmen? Und zum anderen, daß jemand anders unter seinem Namen anrief – und wenn jemand anders anrief, dann hatte dieser Jemand einen triftigen Grund, das zu tun, und der triftigste Grund scheint im Augenblick der zu sein, daß er um jeden Preis mit der Maschine nach Stockholm fliegen wollte. Haydens intuitive Hypothese dürfte als Arbeitshypothese immer noch gültig sein, wenn auch nicht als Axiom.«
»Okay«, sagte Chavez und schien in der Rundenpause Ammoniak geschnüffelt zu haben. »Es war sowieso nicht meine Hauptthese. Die baut statt dessen auf Balls. Wenn unser Mann nun ein pensionierter General ist, so sollte es für ihn kein größeres Problem sein, falsche Spuren zu legen;
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