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Böses Blut

Böses Blut

Titel: Böses Blut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arne Dahl
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für den Verkauf, die Medien stahlen die Sprache und machten sich selbst zur Norm, die Werbung stahl die Gefühle und lenkte sie von ihren wahren Objekten ab, der Drogenmißbrauch nahm kräftig zu. Die neunziger Jahre waren für das Kapital ein Probelauf für eine Zukunft, in der Horden von Langzeitarbeitslosen in Schach gehalten werden mußten, damit sie nicht auf die Barrikaden gingen. Betäubende Unterhaltung, Drogen, die die Pflege erübrigen, ethnische Konflikte, um den Zorn in eine andere Richtung zu lenken, Genmanipulation, um zukünftigen Pflegebedarf zu minimieren, ein Ausrichten aller Kräfte auf den allmonatlichen Balanceakt des eigenen Überlebens –bedurfte es noch weiterer Druckmittel, um die durch Jahrtausende entwickelte menschliche Seele zu ruinieren? Gab es noch irgendwo gefährliches Terrain, wo ein freies, kreatives und kritisches Denken aufgehalten und umgelenkt werden konnte, bevor es Blüten trieb?
    Die Machtmorde waren eine Reaktion gewesen, aber eine gezielte Reaktion. Die blind um sich schlagende gewissenlose Gewalt war im Land noch nicht gesichtet worden, dieses extrem frustrierte und eiskalte, mitleidlose Agieren gegen alles und alle. Aber jetzt hatte es begonnen. Alles würde sich verändern – und das war nur logisch. Man hat nicht die freie Wahl, wenn man sich auf Importe vom Herrscher des Weltalls einläßt. Wenn man sich entscheidet, eine ganze Kultur zu importieren, dann bekommt man auch die Schattenseiten, früher oder später.
    Durch den undurchdringlichen Regen erkannte Paul Hjelm vage die erleuchteten Konturen der Bausünden, von der Städteplanung dazu gedacht, die letzten Reste menschlicher Würde zu töten. Er blieb stehen, klappte den Regenschirm mit dem illusorischen Signum der Ordnungsmacht zusammen und ließ die Sintflut auf sich niedergehen. Wer war er, daß er den ersten Stein werfen könnte?
    Er schloß fest die Augen. Waren wirklich nur noch Ruinen übrig von der schlichten Privatmoral, die wirkte, ohne daß man sie sah, die Gutes tun wollte, ohne es zu zeigen? Was du dir von anderen wünschst, das tue auch für sie.
    Er hatte vorgehabt, sich am Ende des Tages einen Dienstwagen geben zu lassen, aber jetzt war er auf dem Weg ins Ursprungsland der Gegenwartskultur und würde ihn nicht brauchen. Er setzte sich wieder in Bewegung. Er lief. Er lief durch den prasselnden Regen, den zusammengefalteten Schirm unterm Arm. Er mußte laufen, bis die Erschöpfung stärker war als alle unheilvollen Gedanken. Als er vor der Tür seines Reihenhauses ankam, war das Ziel erreicht. Er stolperte in den Flur, und sein Schnaufen hatte ein beunruhigendes Nebengeräusch, das er nicht richtig wiedererkannte. Die Lichter waren aus, es war schon nach elf Uhr. Aus dem Wohnzimmer kam ein schwacher Lichtschimmer, ausnahmsweise nicht vom Fernseher, eher ein flackerndes Flämmchen. Er blieb im Flur stehen, bis sein Atem wieder einigermaßen normal klang. Er zog die Lederjacke aus und hängte sie an die überfüllte Flurgarderobe. Dann ging er hinein und schaute um die Ecke.
    Danne saß da und wartete. Kein MTV, kein Comicheft, kein Computerspiel. Nur Danne und eine kleine Kerzenflamme.
    Paul rieb sich mit den Handballen die klatschnassen Augenhöhlen trocken, bevor er dem Blick seines Sohnes begegnen konnte. Es ging dennoch nicht. Der Blick seines Sohnes war nicht vom Tisch wegzulocken, von der kleinen Wärmeflamme, die in einer Eisgrotte aus Glas flackerte.
    Ohne ein Wort setzte er sich neben seinen Sohn auf das Sofa.
    Ein paar Minuten absoluter Stille vergingen. Keiner von ihnen wußte, wie er anfangen sollte; also fing keiner an.
    Schließlich flüsterte Danne – mit einer Stimme, die verweint klang: »Er hat mich einfach mitgeschleppt. Ich wußte nicht, wohin wir wollten.«
    »Ganz sicher?« fragte Paul Hjelm nur.
    Danne nickte. Es war wieder eine Weile still. Dann gelang es dem Vater, einen Arm um die Schultern seines Sohnes zu legen. Danne rückte nicht weg.
    Erwachsen zu werden bedeutet nur, seine Unsicherheit besser verbergen zu können.
    »Ich hab ein bißchen zuviel gesehen«, sagte Paul leise. »Nur ein paarmal, und das Leben ist tatsächlich zerstört. Das darf nicht passieren.«
    »Das wird es auch nicht.«
    Am Anfang war der Himmel, die Sonne, der Mond, der Wald, das Meer. Die Blicke der ersten Menschen sahen all dies. Dann kam das Feuer, das zu Tode erschreckte und nach und nach gezähmt wurde und zum Begleiter des Menschen wurde. Die kleine Flamme vor ihnen wurde ein Lagerfeuer.

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