Boeses Mädchen
»Du hast ja Brüste!«
Ich meinte zu sterben.
»Klar«, sagte ich und schluckte die Tränen, die mir die Wut in die Augen trieb, hinunter, um mich nicht vollends lächerlich zu machen. »Was hast du denn gedacht?«
»Sei froh. Angezogen bist du platt wie eine Flunder.«
Von dieser Bemerkung geschmeichelt, bückte ich mich nach meinem T-Shirt.
»Nein!« rief Christa. »Ich will dich in dem chinesischen Kleid sehen!«
Sie hielt es mir hin. Ich zog es an.
»An mir sieht es besser aus«, sagte sie.
Auf einmal erschien mir das Kleid wie eine Steigerung meiner Nacktheit. Rasch zog ich es wieder aus.
Christa sprang auf und stellte sich neben mich vor den Spiegel.
»Wir sehen uns gar nicht ähnlich!«
»Laß mich!« flehte ich.
Ich litt Höllenqualen.
»Nicht wegschauen!« befahl sie. »Sieh uns an!«
Der Vergleich war niederschmetternd.
»Dein Busen muß größer werden«, erklärte sie apodiktisch.
»Ich bin doch erst sechzehn!« wandte ich ein.
»Na und?« sagte sie. »Ich auch. Aber meiner ist schon was anderes, oder?«
»Alles braucht seine Zeit.«
»Quatsch! Ich zeig dir mal eine Übung. Meine Schwester war genauso flach wie du. Nach sechs Monaten Training war sie total verändert, glaub mir. Also, mach es mir nach: eins, zwei, eins, zwei …«
»Laß mich in Ruhe, Christa«, sagte ich und griff nach meinem T-Shirt.
Sie schnappte meine Klamotten und schleppte sie ans andere Ende des Zimmers. Ich rannte ihr nach. Sie schrie vor Lachen. In meiner Wut und Erniedrigung kam ich gar nicht auf die Idee, mir ein anderes T-Shirt aus dem Schrank zu nehmen. Christa galoppierte durch mein Zimmer und verhöhnte mich mit ihrem schönen, siegreichen Körper.
In dem Moment kam meine Mutter aus der Schule. Als sie die Schreie aus meinem Zimmer hörte, riß sie ohne anzuklopfen die Türe auf. Zwei nackte Halbwüchsige stoben in alle Richtungen. Daß eine von beiden, ihre Tochter nämlich, kurz vor einem Tränenausbruch stand, merkte sie nicht. Sie hatte nur Augen für die andere, die lachende Unbekannte.
In dem Augenblick, wo meine Mutter die Opferhöhle betrat, wurde Christas dämonisches Lachen zu purer Unschuld, freimütiger Heiterkeit, rein und gesund wie ihr Leib. Sie drosselte ihr Tempo, ging auf meine Mutter zu und streckte ihr die Hand hin.
»Guten Tag, Madame. Verzeihen Sie, ich wollte nur mal sehen, wie Ihre Tochter gebaut ist.«
Ihr schelmisches Grinsen war bezaubernd. Verdutzt blickte meine Mutter das nackte Mädchen an, das ihr ohne einen Anflug von Scham die Hand gab. Nach kurzem Zögern schien sie zu denken: Sie ist ja schließlich noch ein Kind und außerdem ziemlich drollig.
»Sie sind also Christa?« sagte sie schließlich und mußte lachen.
Und sie lachten, lachten, als wäre das eine ungemein komische Szene.
Während ich ihnen zusah, fühlte ich, daß ich eine Verbündete verloren hatte.
Nur ich wußte, daß diese Szene nicht komisch, sondern schrecklich war. Ich wußte, daß Christa kein Kind mehr war, sondern diese Strategie einsetzte, um meine Mutter um den Finger zu wickeln.
Und ich sah, wie meine Mutter diesen schönen, vor Leben sprühenden Körper betrachtete, ohne etwas Schlechtes dabei zu denken – und sich bereits fragte, warum meiner anders war.
Kaum hatte meine Mutter die Tür hinter sich geschlossen, hörte Christa auf zu lachen.
»Du kannst mir dankbar sein«, sagte sie. »Jetzt hast du keine Probleme mehr mit der Nacktheit.«
Ich sagte mir, daß ich mich im allgemeinen Interesse darum bemühen sollte, an diese Version des grausamen Spiels zu glauben. Und wußte schon, daß es mir nicht gelingen würde. Ich hatte ihren Jubel zu deutlich gespürt, als wir nackt vor dem Spiegel standen, ihre vivisektorische Lust an meiner Erniedrigung, den Triumph ihrer Überlegenheit, das Entzücken, mit dem sie mich leiden sah und meine Verzweiflung durch alle Poren in sich einsog.
»Schöne Frau, deine Mutter«, sagte sie, während sie sich wieder anzog.
»Ja«, bestätigte ich, erstaunt, aus ihrem Munde etwas Freundliches zu hören.
»Wie alt ist sie?«
»Fünfundvierzig.«
»Sieht jünger aus.«
»Stimmt«, sagte ich stolz.
»Wie heißt sie?«
»Michelle.«
»Und dein Vater?«
»François.«
»Und wie ist der so?«
»Wirst schon sehen. Er kommt heute abend nach Hause. Und wie sind deine Eltern?«
»Ganz anders als deine.«
»Und was machen sie beruflich?«
»Sei nicht so neugierig!«
»Aber … du hast mich doch auch gefragt!«
»Nein. Du wolltest mir unbedingt
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