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Boeses Mädchen

Boeses Mädchen

Titel: Boeses Mädchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amélie Nothomb
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erzählen, daß deine Eltern beide am Gymnasium unterrichten.«
    Ihre Falschheit verschlug mir die Sprache. Außerdem schien sie, wenn ich es richtig verstanden hatte, zu glauben, ich bildete mir auf den Beruf meiner Eltern etwas ein. Absurde Vorstellung.
    »Du solltest dich anders anziehen«, sagte sie dann. »So sieht man ja gar nichts von deiner Figur.«
    »Du weißt nicht, was du willst: Erst wunderst du dich, daß ich überhaupt einen Busen habe, dann findest du ihn zu klein, und jetzt soll ich ihn auf einmal zeigen. Ich kenn mich nicht mehr aus.«
    »Meine Güte, bist du aber empfindlich!« spottete sie lachend.
     
    Normalerweise verzogen wir uns zum Abendessen jeder mit einem Tablett in seine Ecke, an den Küchentisch, vor den Fernseher oder ins Bett.
    Da wir aber einen Gast hatten, hielt es meine Mutter für angebracht, richtig gemeinsam zu Abend zu essen. Als sie uns zu Tisch rief, atmete ich vor Erleichterung auf, daß ich nicht mehr mit meinem Quälgeist allein sein mußte.
    »Bonsoir, mademoiselle«, begrüßte sie mein Vater.
    »Nennen Sie mich doch Christa«, sagte sie mit vollendeter Natürlichkeit und strahlendem Lächeln.
    Dann beugte sie sich zu ihm hin und küßte ihn zu seiner und meiner größten Überraschung links und rechts auf die Wange. Ich sah meinem Vater an, wie verblüfft und bezaubert er war.
    »Es ist sehr nett von Ihnen, daß Sie mich heute bei sich aufnehmen. Ihre Wohnung ist wunderschön.«
    »Na, übertreiben Sie mal nicht! Wenn Sie gesehen hätten, in welchem Zustand wir sie vor zwanzig Jahren übernommen haben! Wir haben nur viel dran gemacht. Meine Frau und ich, wissen Sie …«
    Es folgte ein ausführlicher Bericht über die Renovierung der Wohnung, in dem kein Detail der mühseligen Kleinarbeit, die sie geleistet hatten, ausgespart blieb. Christa hing an den Lippen meines Vaters, als wäre sie völlig fasziniert von dem, was er erzählte.
    »Köstlich!« rief sie und nahm sich von dem Essen nach, das meine Mutter gekocht hatte.
    Meine Eltern waren hingerissen.
    »Blanche hat uns erzählt, Sie wohnen in der Nähe von Malmédy.«
    »Ja, ich sitze immer stundenlang im Zug, ganz zu schweigen von den Bussen.«
    »Könnten Sie sich nicht ein Zimmer im Studentenwohnheim nehmen?«
    »Ja, das habe ich vor. Ich arbeite hart dafür.«
    »Sie arbeiten?«
    »Ja, als Serviererin in einer Bar in Malmédy, am Wochenende, manchmal auch unter der Woche, wenn ich nicht zu spät nach Hause komme. Ich finanziere mein Studium selbst.«
    Voller Bewunderung betrachteten meine Eltern Christa – und gleich darauf vorwurfsvoll ihre Tochter, die es mit ihren sechzehn Jahren noch nicht schaffte, auf eigenen Füßen zu stehen.
    »Was machen Ihre Eltern?« fragte mein Vater.
    Ich freute mich schon darauf, daß sie ihm dasselbe sagen würde wie mir: »Seien Sie doch nicht so neugierig!«
    Leider tat sie das nicht. Nach einer wohlkalkulierten kleinen Pause verkündete sie mit schlichter Tragik: »Ich stamme aus einfachen Verhältnissen«, und schlug die Augen nieder.
    Das waren zehn Punkte für sie.
    Gleich darauf erklärte sie mit dem zurückhaltenden Eifer eines tapferen kleinen Mädchens: »Wenn ich richtig gerechnet habe, müßte ich mir Ende nächsten Frühjahrs ein Zimmer leisten können.«
    »Aber das ist ja kurz vor den Prüfungen!« rief meine Mutter aus. »Wie wollen Sie das denn alles auf einmal schaffen?«
    »Wird schon irgendwie gehen«, sagte Christa.
    Ich hätte sie am liebsten geohrfeigt. Und nahm es mir sofort übel. Das ging auf das Konto meiner bösen Seite.
    Christa plauderte munter weiter.
    »Wissen Sie, was mir gerade durch den Kopf geht? Ich fände es nett, wenn wir uns alle duzen – sofern Sie nichts dagegen haben. Sie sind so jung, daß es mir albern vorkommt, Sie zu sagen.«
    »Gern«, sagte mein Vater und grinste bis über beide Ohren.
    Ich fand sie unglaublich dreist und tobte innerlich, daß meine Eltern sich so leicht von ihr verführen ließen.
    Bevor wir wieder in mein Zimmer gingen, küßte sie meine Mutter und sagte: »Gute Nacht, Michelle.«
    Dann küßte sie meinen Vater und sagte: »Gute Nacht, François.«
    Ich bereute zutiefst, ihr die Vornamen meiner Eltern verraten zu haben, wie ein Folteropfer, das die Namen seiner Verbündeten preisgegeben hat.
     
    »Dein Vater ist auch klasse«, bemerkte sie später.
    Ich stellte fest, daß ihre Komplimente mich inzwischen kaltließen.
    Dann legte sie sich in mein Bett und sagte: »Weißt du, ich bin echt froh, daß ich hier

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