Boeses Spiel
Einige meiner neuen Mitschüler schoben die Tische zusammen und hockten sich im Schneidersitz darauf, ein Mädchen im perfekten Lotussitz, manche balancierten auf Stuhllehnen oder stützten sich auf die Schulter ihres Nachbarn, einer lehnte am Fenster, mit verschränkten Armen, als imitierte er den Lehrer. Ich sah auch, wie ein Mädchen nervös mit einer Zigarettenschachtel spielte. Und eine andere, die eine SMS in ihr Handy tippte. Man hatte mir beim Vorstellungsgespräch gesagt, dass das Benutzen von Handys während des Unterrichts strengstens verboten sei. Deshalb hatte ich mein Gerät lieber gleich zu Hause gelassen. Es war komisch, so viele fremde Leute so nah auf dem Pelz zu haben, sie waren ganz dicht um mich, schubsten und drängelten. Zeitweise fühlte ich mich wie ein frisch geborenes Eisbärenbaby im Zoo. So anders. Aber es war trotzdem gut. Es war intensiv, sie waren echt an mir interessiert, sie würden mich kennenlernen und in ihren Kreis aufnehmen. Es würde der Anfang einer langen Freundschaft werden. Ich kannte noch niemanden von ihnen, ich wusste weniger von ihnen als sie von mir. Ich kannte nicht einmal ihre Namen. Ich hatte keine Ahnung, was für eine Art Leben sie als Internatsschüler führten, ohne die Eltern in greifbarer Nähe, ohne den Schutzraum ihres eigenen Zuhauses. Ich hatte nie darüber nachgedacht, was für ein Leben Internatsschüler eigentlich lebten. Tausend Dinge gingen mir in diesen Sekunden, als sie mich umstanden und anstarrten, durch den Kopf. Wollte ich ihnen in dem Augenblick so ähnlich wie möglich sein?
Ich weiß es nicht mehr. Klar war nur, dass ich den Rest
meiner Schulzeit mit ihnen verbringen würde. Ich wagte nicht, sie neugierig anzusehen, weil sie alle ihre Augen auf mich gerichtet hatten. Selbst das Handy war wieder in der Jackentasche des Mädchens verschwunden.
Es war still. Sie sagten nichts, sie schwiegen und blickten mich an, nicht unfreundlich. Ich hatte keine Ahnung, was sie von mir erwarteten.
In meiner Nase begann es zu kribbeln. Ich hatte mal gesehen, wie jemand Schnupftabak nahm und danach mit einem mächtigen Prusten seine Nase entleerte. Irgendwie fühlte ich, dass mir jetzt gleich genau so etwas passieren würde. Je mehr ich versuchte, das Kribbeln zu ignorieren, desto weiter kam es in meiner Nase voran. Mein ganzer Schädel bestand nur noch aus einer Nasenschleimhaut, die sich zusammenzog, um im nächsten Augenblick zu explodieren.
Ich hatte kein Taschentuch. Das war das Fatale. Ich hab sonst immer ein frisches Päckchen Papiertücher bei mir. Ausgerechnet an dem Tag hatte ich es vergessen. Meine Augen begannen zu tränen.
Ich kniff die Augenlider zusammen, streckte die Hand blind in die Gegend und wisperte: »Tschuldigung... hat jemand für mich ein Taschentuch?«
Es dauerte einen Moment. Ich dachte schon, die halten das für eine Show oder für einen Witz. Aber dann rief ein Junge: »Hey. Klar. Hier.« In dem Augenblick, als ich das Taschentuch in den Fingern spürte, konnte ich den Nieser nicht mehr zurückhalten. Ich prustete los, es war eine unglaubliche Erleichterung, nachdem ich mich so lange bezähmt hatte. Aber es war zu früh. Ich hatte das Papiertuch noch nicht einmal auseinandergefaltet. Wahrscheinlich ging ein Sprühregen über die nieder, die mir am nächsten
standen. Keine Ahnung, ich kriegte die Augen immer noch nicht auf. Ich wollte sie auch gar nicht aufmachen.
»Bist du allergisch oder so was?«, hörte ich fragen. Der Stimme nach war es der Junge, der mir eben geholfen hatte. Ich blinzelte. Ich sah einen Typen mit Brille, der mich freundlich anlächelte, während er sich mit einem frischen Papiertaschentuch die Ärmel rieb. Sie hatten sich alle einen Meter weit von mir zurückgezogen. Mein Gesicht glühte, ich schüttelte den Kopf.
Jemand rief schrill: »Oder die asiatische Grippe?«
Ich hob beschwichtigend die Arme. »Nein. Es ist überhaupt nichts. Ich bin nicht krank oder so. Vielleicht... ich weiß nicht...« Ich brach mitten im Satz ab. Es war ziemlich zwecklos. Ich wusste nicht weiter. Ich fühlte mich total bescheuert.
Danach herrschte erst einmal wieder Stille. Das Mädchen mit dem Handy tippte erneut eine SMS ein. Sie hatte Haare, so gegelt und wild in alle Richtungen abstehend, wie das bei 10-jährigen Jungen gerade Mode ist. Fand ich irgendwie komisch. Sie lächelte, während sie ihre SMS abschickte. Ich hatte sie die ganze Zeit im Blick. Dicker Kajalstrich um die Augen. Ich dachte: Die will jemand anderes
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