Boeses Spiel
»Kaspar guckt Pornos im Internet!«
»Hey, nicht flüstern!«, rief jemand.
»Ich hab nur gesagt, dass Kaspar eine Schwäche für nackte weibliche Ärsche hat«, meinte Tilly. Jetzt lachten noch ein paar mehr.
»Lass das, Tilly«, sagte Yoga-Marcia, »das ist dämlich.«
»Okay, bin schon still.« Tilly baute sich jetzt vor mir auf. Sie hatte eine ziemlich schräge Frisur, total asymmetrisch, auf der einen Seite fielen ihr die Haare lang über die Augen und auf der anderen waren sie raspelkurz. Das Ganze leuchtete in Maisgelb mit einer roten Strähne. Sah ein bisschen nach Punk aus. So gewollt schräg. Aber das passte irgendwie
nicht zu ihren Klamotten, die kreuzbrav waren. Plötzlich beugte sie sich vor und küsste mich. Erst auf die linke Wange, dann auf die rechte, dann auf den Mund. Und sie grinste. »Das macht ihr doch so in Russland, oder? Da küssen sich doch sogar die Politiker zur Begrüßung auf den Mund.«
Ich erwiderte das Grinsen. Ihr Kuss schmeckte nach Lakritze. Irgendwie lustig.
»Wie heißt noch mal das Kaff, aus dem du kommst?«
»Wohlstorf«, sagte ich.
»Nein. In Russland.«
»Ich komm nicht aus Russland. Ich komm aus der Ukraine.«
»Das ist doch fast dasselbe.«
Ich erwiderte darauf nichts. Das war mir zu blöd.
»Sag mal irgendetwas auf Russisch!«, rief jemand.
»Was denn?«, fragte ich.
»Na, irgendwas. Was dir gerade einfällt.«
Sie standen um mich herum und schauten mich an. Ich kannte jetzt schon ein paar von ihnen: Karate-Simon, wie ich ihn heimlich nannte, Yoga-Marcia und Punky-Tilly. Ich hob ratlos die Schultern. »Keine Ahnung. Mir fällt nichts ein.«
Ein Mädchen drängte sich nach vorn. Sie war mir schon in der Stunde aufgefallen. Ich hatte sie gut beobachten können, weil sie schräg vor mir gesessen hatte. Während des ganzen Unterrichts hatte sie einen Ärmel von ihrem Pulli aufgeribbelt, zuerst war es nur ein kleiner Wollfaden, den sie um ihren Finger wickelte, aber dann ribbelte sie immer weiter und formte ein Knäuel daraus. Es wurde immer dicker, während der Ärmel kürzer und kürzer wurde. Als Dr. Simonis
einmal seinen Platz plötzlich verließ und auf sie zukam, biss sie blitzschnell auf den Faden, trennte ihn ab und versteckte das Knäuel und ihren Arm unter dem Tisch. Gleich nachdem Dr. Simonis den Klassenraum zur Pause verlassen hatte, zog sie den Pulli aus, rollte ihn zu einer Wurst zusammen und knotete ihn um die Taille. Jetzt trug sie nur ein langärmliges, weißes T-Shirt. Sie war superdünn, flach wie ein Brett.
»Sag doch mal auf Russisch, was du so über uns denkst«, sagte sie.
»O ja, klasse. Und wir raten, was du gesagt hast!«, rief Tilly.
Das Mädchen mit dem Ribbelpulli hatte einen ganz langen, dünnen Hals, ganz lange, dünne Finger und lange, dünne Beine.
»Wie heißt du?«, fragte ich.
»Annika«, sagte sie.
»Okay.« Ich nickte. Dann konzentrierte ich mich einen Augenblick und sprach auf Russisch ungefähr Folgendes: »Ich bin jetzt eine Stunde in der neuen Schule. Und ich kenne schon ein paar Leute. Ich kenne Simons Handschlag, weiß, dass Marcia Klassensprecherin ist und fünf Stunden in Lotusposition sitzen kann, dass Tilly einen Haartick hat. Und Annika sich gerne selber aufribbelt. Ich hoffe, dass ich bis zum Ende dieses Tages auch die anderen kennen lernen werde und dass wir uns alle gut vertragen und eine schöne Zeit miteinander haben.«
Ich holte tief Luft. Ich lächelte.
Die Schüler standen schweigend um mich herum.
»Und?«, fragte Marcia.
»Und was?«
»Was hast du gesagt?«
»Ich dachte, ihr wollt das raten«, erwiderte ich.
»Ich hab meinen Namen gehört«, ließ Simon sich vernehmen. »Ich will wissen, was du über mich gesagt hast.«
»Nichts Schlimmes«, sagte ich.
»Wär ja auch noch schöner«, entgegnete er.
»Und was hast du über mich gesagt?«, fragte Annika. »Ich hab auch meinen Namen gehört, ganz genau.«
»Gar nichts«, entgegnete ich. »Nur, dass ich deinen Namen eben jetzt kenne und den von Marcia, Simon und Tilly. Das ist alles und dass ich hoffe, dass wir uns alle gut verstehen.«
Der Gong ertönte.
Marcia löste sich aus ihrer Yogaposition.
»Okay«, sagte sie, »zweite Runde.«
Ich weiß nicht, was sie damit meinte, dass bald die zweite Stunde anfing oder unser Gespräch in die zweite Runde gehen würde.
Simon trug den Tisch, auf dem Marcia gesessen hatte, wieder an seinen Platz. Andere schlängelten sich, ihre Stühle über dem Kopf haltend, durch die Bankreihen.
Ein
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