Boeses Spiel
Blicke durch den Saal schweifen ließ, »dass in deiner Klasse bislang genau vierundzwanzig Schüler waren. Also drei voll belegte Tische.« Sie lächelte mir zu. »Es war also keine böse Absicht, dass du keinen Platz bekommen hast.«
Ich lächelte zurück. »Weiß ich doch«, sagte ich. Aber ich wusste es vorher nicht und war dankbar und erleichtert, als ich es jetzt erfuhr.
»Dann kommst du erst einmal mit zu uns, bis wir eine Lösung gefunden haben.« Dr. Simonis deutete auf den langen Tisch, an dem nur Erwachsene saßen. Der Lehrertisch. Mir wurde siedend heiß.
»Keine Angst, wir beißen nicht«, sagte Simonis und ich hatte das Gefühl, die ganze Schule schaut zu, als er mich mit an den Lehrertisch nahm, mir höflich den Stuhl zurückzog, damit ich mich setzen konnte, und mir Wasser aus der Karaffe einschenkte, bevor er mich den anderen Lehrern vorstellte.
Sollte ich diesen Augenblick jetzt genießen? Würde dies so etwas wie Verständnis bei den Schülern hervorbringen? Oder würden sie mich dafür hassen, dass ich eine Sonderbehandlung bekam?
Ich schaute mich zaghaft um. Aber niemand achtete auf mich. An allen Tischen wurde fleißig gespachtelt, geredet, gelacht. Es war eine gelöste Stimmung. Alle kannten sich gut, weil sie ihre guten und ihre schlechten Tage miteinander verbrachten. Irgendwie schön. Ich dachte: Eines Tages
gehörst du dazu. Alles braucht eben Zeit. Ich war bereit, geduldig zu sein und zu warten.
»Es gibt heute Putengeschnetzeltes mit Reis«, sagte Dr. Simonis. »Die Schüler lieben dieses Gericht. Unsere Frau Hofmeister ist eine großartige Köchin. Sie kann richtig zaubern. Wenn von uns Lehrern einmal jemand ausfällt, dann freuen sich die Schüler. Aber wenn Frau Hofmeister krank ist - da kommt bei den Schülern Panik auf!« (Das widersprach dem, was Tilly mir über das heutige Essen gesagt hatte, aber es war gleichgültig...) Der Lehrer lachte. »Hoffentlich schmeckt es dir.« Er stellte einen gefüllten Teller vor mich hin. »Guten Appetit«, sagte er freundlich.
An dem Abend kam meine Mutter früher nach Hause als sonst. Sie hatte eine Kollegin dafür bezahlt, dass sie ihre Arbeiten übernahm, Wurstsorten verpacken, Kühlräume abschließen, Reinigen der Schneidemaschinen und all das. Ihre Tochter war den ersten Tag auf einem deutschen Gymnasium. Für sie ein Feiertag. Der durfte nicht vorbeigehen wie alle anderen Tage. Sie brachte sogar Gebäck mit, gefüllte Faschingskrapfen; die letzten des Jahres.
Eigentlich hatte ich viel zu tun - neue Arbeitsmappen anlegen, Hausarbeiten von heute anfertigen und vor allem, mich in die fantastische Welt der chemischen und biologischen Prozesse in der Natur zu begeben, von der man auf der Realschule kaum etwas erfuhr. Doch nichts von alledem hatte ich getan.
Ich hatte den ganzen Nachmittag auf dem Sofa herumgelümmelt und mich durchs Fernsehprogramm gezappt. Ich fühlte mich total erschöpft und ausgelaugt und guckte wohl gerade irgendein Musikvideo, als meine Mutter plötzlich in
der Tür stand. Sie trug noch ihren Mantel, den Schal, die Handschuhe. Sie hatte eine rote Nase von der Kälte.
»Ist etwas passiert?«, fragte sie erschrocken.
Ich schüttelte den Kopf. »Nee. Wieso?«, und zappte weiter.
»Weil du sonst nie um diese Zeit vor der Glotze sitzt.« Sie sah mich an. »Ich dachte wirklich, du hättest heute Spannenderes zu tun.«
Ich zuckte nur mit den Schultern.
Meine Mutter zog die Handschuhe von den Fingern, knöpfte den Mantel auf und setzte sich neben mich. Ihre Kleidung verströmte feuchte Kälte und ich zog mich an den Rand des Sofas zurück. Als sie nach meiner Hand fassen wollte, wich ich ihr erneut aus und stellte wortlos den Fernseher ab. Dann stand ich auf.
»Kätzchen«, sagte meine Mutter, »bitte, so erzähl doch!«
»Was soll ich erzählen?«
»Na was! Wie es gewesen ist! Der erste Tag in der neuen Schule. Aufregend, oder?«
Ja, aufregend war es gewesen.
»Ich bin so gespannt!« Sie warf die Handschuhe auf den Couchtisch und streifte den Mantel von den Schultern. »Weißt du«, sagte sie fröhlich, »dass ich es jeder Kundin, die ich kannte, erzählt hab? Jede, die ein Viertelpfund Leberwurst kaufte, musste von mir hören, dass meine Tochter Svetlana jetzt aufs Gymnasium geht!« Sie lachte. »Und eben hab ich im Treppenhaus Frau Nowatzki getroffen.«(Die Nowatzkis wohnen ein Stockwerk über uns. In der Dachwohnung, die keinen Balkon hat, aber die beste Aussicht. Sie kommen aus Polen.) »Und ich soll dich
Weitere Kostenlose Bücher