Boeses Spiel
ganz herzlich von ihr grüßen. Frau Nowatzki hat solche Augen gemacht, als
sie hörte, auf welche Schule du jetzt gehst.« Mama rollte mit den Augen, um mir vorzuführen, wie Frau Nowatzki geguckt hatte. Sie war immer noch ganz überwältigt vor Freude.
Ich reagierte mit einem Achselzucken.
»Hoffentlich warst du pünktlich«, sagte sie. »Heute Morgen waren die Straßen ja spiegelglatt. Ich hab Angst gehabt, dass du vielleicht zu spät kommst.«
Sollte ich ihr sagen, dass ich tatsächlich zu spät gekommen war? Warum sie unnötig aufregen.
»Es hat alles super geklappt«, erwiderte ich. »War alles prima. Mach dir keine Sorgen.«
»Schön«, sagte meine Mutter erleichtert. »Schön. Ich bin so froh.«
Erst jetzt konnte ich mich in meinem Zimmer auf die Arbeit konzentrieren. Vorher war mein Gehirn irgendwie auf Schleudergang programmiert gewesen. Ich hatte keinen klaren Gedanken fassen können, ehe nicht Mamas Schritte in der Wohnung zu hören waren, das Klappern von Geschirr, das Pfeifen des Teekessels und wie sie im Bad leise ein russisches Lied vor sich hinsummte. Geräusche, die mir Sicherheit gaben und Ruhe.
Ich googelte »Genmanipulation an Pflanzen« und machte mir einen Haufen Stichworte.
Morgen würden wir Englisch haben. Ich holte mein altes Vokabelheft raus und sagte alle Vokabeln von der ersten bis zur letzten Seite noch einmal laut vor mich hin. Irgendwie kam mir meine Stimme wie eingerostet vor. Und ich fand plötzlich, dass man, wenn ich englisch sprach, einen russischen Akzent schrecklich durchhörte. Manche Worte wiederholte
ich wohl zwanzig Mal, bis ich einigermaßen zufrieden war. Zum Beispiel das Zungenbrecherwort »dreariness« oder »reinsurance«. Ich blätterte in dem neuen Mathebuch, das mir unser Mathelehrer gegeben hatte. Gott sei Dank würden wir uns in diesen verbleibenden Monaten des Schuljahres nur mit Algebra beschäftigen. Algebra hatte mir bislang immer viel Spaß gemacht. Aber schon beim Blättern sah ich, dass von jetzt an alles viel schwerer und komplizierter werden würde. Der Mathelehrer hieß Uwe Johnson, genau wie der berühmte Schriftsteller. Er hatte mir angeboten, mit mir die unbekannten Stoffeinheiten durchzugehen, damit ich so schnell wie möglich Anschluss an das Niveau der Klasse bekäme.
»Ich weiß nicht, ob meine Eltern das bezahlen können«, hatte ich etwas verlegen gesagt. Glücklicherweise war das nach Beendigung der Stunde, als ich mit Herrn Johnson allein im Klassenzimmer war.
»Das brauchst du nicht extra zu bezahlen«, erwiderte er freundlich, »das ist alles in meinem Gehalt inbegriffen. Und außerdem wäre es mir eine Freude, dich zu unterrichten. Ich hab gehört, du bist ein kleines Mathegenie.«
»Nur ein ganz kleines«, sagte ich.
»Aber du hast in Mathe immer eine glatte Eins gehabt.«
»Das war auch babyleicht.«
Herr Johnson legte grinsend seine Hand auf meine Schulter. »Siehst du«, sagte er, »das meine ich.«
Ich fand ihn toll. Ich wusste schon von diesem ersten Tag an, dass ich mich für ihn besonders anstrengen würde.
Beim Abendessen war ich immer noch so mit mir selbst beschäftigt, dass meine Mutter mir jedes Detail quasi aus der
Nase ziehen musste. Wie die Lehrer hießen, welchen Stoff wir in den einzelnen Fächern durchgenommen hatten, wer mir am besten gefiel von den neuen Mitschülern. Und so weiter und so weiter. Meine Mutter tat mir leid, denn ich wollte nichts erzählen, schon meinetwegen nicht, ich hatte diesen Tag für mich gerade erst halbwegs »verarbeitet«, und auch ihretwegen nicht, um ihr nicht wehzutun. Sie sollte nicht erfahren, wie es mir ergangen war.
»Mama«, stöhnte ich also, »ich habe die Leute erst einen halben Tag gesehen! Woher soll ich das alles jetzt schon wissen!«
»Waren sie denn nett zu dir?«, fragte sie.
»Klar«, erwiderte ich.
Sie strahlte erleichtert. »Siehst du? Ich hab’s gewusst. An dieser Schule ist alles besser.«
»In meiner alten Schule waren die Leute doch nett«, sagte ich.
»Ja«, entgegnete meine Mutter gedehnt, »nett schon. Aber so eine richtige enge Freundin hast du nie gehabt, oder?«
Ich wechselte schnell das Thema. Ich sprach von Uwe Johnson und dass er mir Extrastunden geben wollte, die nichts kosten würden. Mama war gerührt. So etwas hatte sie noch nicht gehört. Ich weiß, dass sie in der Ukraine viele Nachhilfestunden gegeben hatte, aber natürlich gegen Bezahlung. Ihr Lehrerinnengehalt reichte ja nicht einmal aus, um uns beide mit allem zu versorgen,
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