Boeses Spiel
was wir brauchten. Wenn Oleg damals in Dobroje, noch bevor er meine Mutter heiratete, sein Gehalt nicht mit uns geteilt hätte, wäre sie gezwungen gewesen, noch einen Nebenjob anzunehmen.
Nun wollte Mama wissen, was wir in den anderen Fächern durchgenommen hatten. Als ich erwähnte, dass es in Ethik um Scientology gegangen sei, hätte sie mich am liebsten sofort in ein Gespräch über die Sekte verwickelt. So war Mama. Sie hatte sich schon immer mit Vehemenz auf jedes noch so abseitige Thema geworfen. Und erst recht, seit sie hier im Supermarkt arbeitete. Hatte sich einfach gefreut, wenn es in Unterhaltungen nicht um Leberwurst und Laugenbrezeln ging. Wahrscheinlich habe ich meinen Ehrgeiz und den Wissensdurst von ihr geerbt, ganz sicher sogar.
Sie fand es also superspannend, über genmanipulierten Mais zu reden. Sie betrachtete jedes meiner neuen Schulbücher mit Begeisterung. Blätterte hingebungsvoll im neuen Mathebuch, im Biobuch. Sie fand alles großartig. Sie strahlte, sie glühte. Es war, als wäre der Frühling über sie gekommen und hätte sie wieder zum Blühen gebracht. Sie sah schöner aus als sonst. Wenn sie um den Tisch herumging, hatte ihr Gang etwas Tänzelndes. Es war schön, sie zu so sehen, aber da ich über diesen Tag geschwiegen hatte, darüber, wie er wirklich abgelaufen war, machte es mir das Herz schwer. Ich konnte ihr nicht die Wahrheit sagen.
»Und das Mittagessen?«, fragte sie, als ich irgendwann erschöpft Luft holte. »Wie lief das ab? Erzähl! Was gab es?«
Ich sagte, dass es Putenfleisch mit Reis gegeben habe. Ich hoffte, sie würde nicht fragen, an welchem Tisch ich gesessen hatte. Ich überlegte mir schon eine Notlüge. Sie fragte nicht, sondern meinte nur: »War bestimmt lecker.«
»Und dazu grünen Salat«, sagte ich.
»Ah. Gut. Frische Vitamine. Und zum Nachtisch?«
»Konnten wir aussuchen. Da standen große Kisten. Mit Äpfeln und Apfelsinen.«
»Oh! Wie vernünftig!«, rief meine Mutter. Ich glaube, wenn ich gesagt hätte, dass es Vanillepudding gab, hätte sie das genauso kommentiert.
Dabei wusste sie erstens, dass ich viel lieber Fisch als Fleisch aß, und zweitens, dass wässriger Kopfsalat überhaupt nicht meine Leidenschaft war. Mein absolutes Lieblingsessen sind Nudeln, und zwar praktisch jede Art von Spaghetti. Am allertollsten finde ich Spaghetti mit Scampi. Das wusste Mama genau.
Schließlich stand sie auf, um frischen Tee zu brühen. Sie hantierte hinter meinem Rücken und summte dabei, wie vorhin im Bad, aber jetzt machte mich das aus irgendeinem Grunde furchtbar nervös. Ich rutschte auf meinem Stuhl hin und her.
»Wenn du es auf dieser Schule schaffst«, sagte sie schließlich, »schaffst du alles.«
Sie drehte sich um und gab mir - den Teekessel mit dem kochenden Wasser in der Hand - einen Kuss.
Das war ungefähr schon der fünfte an diesem Abend.
»Ist das Leben nicht herrlich? Ist es nicht wunderbar?«, rief sie, immer noch mit dem glühend heißen Kessel in der ausgestreckten Hand.
»Mama, du verbrühst dich«, sagte ich.
Sie kicherte nur vergnügt. Ihre gute Laune war an diesem Abend durch nichts zu erschüttern.
Nach dem Essen (es gab zur Feier des Tages Lachsfilet mit Dillsoße und Kartoffelbrei) aßen wir die Faschingskrapfen, Mama hatte sie extra bei dem teuren Bäcker gekauft. Mit köstlicher Konfitürenfüllung und dickem Zuckerguss. Wir mampften einen Krapfen nach dem anderen, leckten uns die Finger, spülten mit schwarzem Tee nach, und Mama, die
in richtiger Partylaune war, holte Papas Wodkaflasche und schenkte sich ein Gläschen ein.
An diesem Abend wollte sie nicht bügeln, keine Strümpfe stopfen oder sonst irgendwelche Hausarbeiten machen. Sie wollte einfach nur fröhlich sein und den großen Tag ihrer Tochter feiern.
Ihre Augen glänzten, sie lachte und kicherte immerzu, und als Papa aus Minsk anrief, gab sie ihm schmatzende Küsse durchs Telefon.
Ich schaute sie an und dachte: Schon um ihretwillen muss es klappen. Weil sie es sich so für ihre Tochter wünscht. Schon ihretwegen muss ich gut zurechtkommen.
In der Nacht fand ich keinen richtigen Schlaf. Ich wälzte mich tausendmal hin und her, machte Licht, stand auf, durchsuchte meine Schulsachen und legte mich wieder hin. Meine Unruhe ließ nicht nach. Aus einer der unteren Wohnungen kam Musik. Irgendeine türkische Musik.
Manchmal konnte man sie stundenlang hören. Als hätten ein paar unserer Mitbewohner ähnliche Schlafprobleme wie ich in dieser Nacht.
Drei Wohnungen
Weitere Kostenlose Bücher