Boeses Spiel
Tisch ich mich setzen soll?«, fragte ich tapfer. Ich kriegte sogar ein Grinsen hin. So als wäre es für mich ein Kinderspiel, in einem fremden Speisesaal zu stehen und nicht zu wissen, wohin ich gehörte. Ob ich überhaupt irgendwo hingehörte. Beobachtet - sicher nicht von allen dreihundert Schülern, aber doch auffällig genug in meinem hilflosen Dastehen. Ich fühlte die Blicke wie Nadelstiche in meinem Rücken, wie Pfeile.
Marcia nahm den Wasserkrug und schenkte sich ein. Gleichzeitig deutete sie vage in den Raum. »Am Anfang musst du halt gucken«, meinte sie gleichmütig, »wo Platz ist und wo man dich haben will. Das ist uns allen so gegangen. Wir haben hier immer so unsere eigene Ordnung, weißt du, das geht nach den Zimmern und den Häusern, in denen wir wohnen.« Sie lächelte plötzlich, als wäre sie froh, endlich eine passende Erklärung gefunden zu haben. »Das ist ein bisschen schwierig für dich, weil du Externe bist. Aber ich bin sicher, du kriegst das hin.«
Ich nickte. Ich wandte mich ab.
Ich wusste nicht: War das ein Ritual? War das eine Machtprobe? Warum behandelten die mich so? Wieso stand keiner
auf, nahm mich an der Hand und sagte: Guck mal, da ist Frau Meier oder Müller oder Schulze, die weiß immer alles; frag die mal... Wieso nicht?
Aber es stand auch keiner auf und winkte mir, um mich an den Tisch einzuladen. Zweimal sah ich noch jemanden aus meiner Klasse, der an mir vorbeiging, als existierte ich überhaupt nicht, und wie magnetisch auf einen Tisch zusteuerte.
Und nun?
Die Schiebetüren zur Küche gingen auf und jemand rief: »Essen holen.« Die Köchin.
Sofort sprangen an jedem Tisch zwei Schüler auf und stellten sich an der Essensausgabe an.
Die ersten Schüsseln wurden an mir vorübergetragen. Es roch wirklich ein bisschen nach Banane und Kokosmilch. Ich spürte plötzlich, dass ich einen Bärenhunger hatte.
Mein Gesicht brannte. Ich stand im Weg. Jemand verschüttete fast das Essen, als ich mich im falschen Augenblick umdrehte. Es war ein Junge, der höchstens in die sechste Klasse ging. »Mann! Pass doch auf!«, zischte er. Bevor ich sagen konnte, dass es mir leidtat, war er schon weiter.
Ich sah, dass offenbar jeweils zwei Leute an einem Tisch verantwortlich für die Verteilung des Essens waren, und schlussfolgerte daraus, dass dies generell so eingerichtet war. Heute gab einer den Reis aus und der andere kippte eine Kelle Fleisch mit Soße darüber. Der Geruch des Gerichtes breitete sich immer mehr aus. Das Geklapper des Bestecks, das Gemurmel. Und für mich gab es keinen Platz.
Wie betäubt ging ich zur Tür, die inzwischen geschlossen war. Als ich sie aufstieß, hörte ich von hinten, wie jemand rief: »Svetlana?«
Mir schien es, als würde es auf einmal ruhiger in dem Saal. Ich hob die Schultern. Ich spürte diese Pfeile genau in meinem Wirbelkanal.
»Svetlana? Was ist los?« Das war die Stimme von Dr. Simonis. Ich atmete tief durch. Ich drehte mich um. Simonis kam auf mich zu und neben ihm ging eine Frau. Sie streckte mir strahlend die Hände entgegen.
»Mein Fräulein!«, rief sie. »Hat sich denn keiner um dich gekümmert?«
Das war Beate Clausen, wie ich gleich erfahren sollte, die Hausdame des Internats. Später wusste ich, dass sie alle Schülerinnen immer mit »mein Fräulein« ansprach. Eine Marotte von ihr.
Beate Clausen war klein und rundlich, sie hatte eine Warze direkt zwischen den Augenbrauen und trug ihre Brille an einer Plastikkette vor dem Busen. Das hinderte sie aber nicht daran, mich an eben diese Brust zu drücken.
Simonis stellte mich ihr vor. »Das ist Svetlana, unsere Externe, die heute zum ersten Mal bei uns ist.«
»Weiß ich doch! Aus der Ukraine, nicht wahr? Wie schön!«
Ich wollte eigentlich sagen, dass wir schon seit drei Jahren in Deutschland lebten und ich bereits einen deutschen Pass hatte, aber irgendwie hätte es wohl nicht gepasst jetzt und außerdem bekam ich dazu ohnehin keine Chance. Frau Clausen tätschelte mütterlich meine Wange. Es war mir alles superpeinlich. Ich hatte das Gefühl, die ganze Schule schaute zu.
»Hat dir niemand einen Platz gezeigt?«, fragte Dr. Simonis.
Er sah sich stirnrunzelnd um. Ich wollte die anderen nicht
verpetzen, deshalb sagte ich schnell: »Ist nicht so schlimm, ich hab auch nicht gefragt, ich wusste nicht...«
Als er mich wieder anschaute, fiel mir plötzlich nicht mehr ein, wie ich den Satz überhaupt beenden wollte.
»Das Problem ist«, sagte Frau Clausen, während sie ihre
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