Boeses Spiel
ich.
»Oh, entschuldige. Ich hab dich gestört.«
»Nein, macht nichts, es ist okay. Aber jetzt muss ich aufhören.«
»Du bist nicht sauer oder so?«
»Quatsch. Wieso denn.«
»Also dann...«
»Ja, also dann...«, sagte ich. Und legte auf.
Im gleichen Augenblick wusste ich, dass ich am nächsten Tag nicht zur Schule gehen würde. Ich fragte mich, ob ich es überhaupt schaffen würde, diese Schule je wieder zu betreten.
Wenn ich mir nur die Einfahrt vorstellte, diesen gewundenen Fahrweg mit all den Pfeilen, die nach rechts und links zeigten, Turnhalle, Sportplatz, Lieferantenzufahrt, Biologischer Lehrpfad, Treibhaus, Trimm-dich-Pfad, Raum der Stille, Philosophenturm, Gerätehaus, THW, Jungenhaus, Mädchenhaus, Haupthaus, Wäscherei, Hausmeisterei... Da zog sich mir bereits der Magen zusammen. Und bei dem Gedanken an die Freitreppe, die ich mit meinem Rucksack hochsteigen müsste, fühlten sich meine Beine so schwer an wie Blei.
Und dann müsste ich nur noch vor dem Unterricht auf irgendeinen aus meiner Klasse treffen, und er müsste irgendetwas
Bösartiges zu mir sagen und schon würde gar nichts mehr gehen.
Vielleicht liest ja irgendwer einmal dieses Zeug hier. Jemand, der Ähnliches erlebt, der auch gemobbt wird in seiner Schule, von seinen eigenen Klassenkameraden. Der versteht, was ich meine.
Der wird nachvollziehen können, was ich durchgemacht, wie elend ich mich gefühlt habe. Nur jemand, der wie ich jeden Tag Angst davor hatte, die SMS auf seinem Handy zu checken oder den Computer einzuschalten, weiß, wie das ist. Es ist eine Folter, die die Seele kaputtmacht.
Es ist die Hölle.
Wenn du da niemanden hast, der dir beisteht und bei dem du dich ausweinen kannst - dann bist du verloren.
Bis dahin hatte ich Ravi. Bis dahin hatte ich mich an dem Gedanken festklammern können, dass ganz sicher war, wenigstens ein einziger Mensch von dieser Schule gehörte nicht zu meinen Feinden, zu meinen unsichtbaren Gegnern. Zu diesen erbärmlichen Feiglingen, die mich aus ihrer sicheren Deckung angriffen, die sich nie zeigten.
Ich hatte es mir so schön vorgestellt.
Ravi und ich im fetten Auto seines Vaters, wie wir zum »Fährhaus« rollen. Das ist ein Restaurant an der Schlei, und zwar an der Stelle, wo sie so mächtig ist wie ein Fjord. Dort gibt es dieses Restaurant, in dem man für ein Glas Wasser mehr zahlt als anderswo für eine Pizza.
Wenn die Schüler aus einer Erlenhof-Klasse von ihren Eltern groß ausgeführt wurden, ging es immer ins »Fährhaus«. Ich war da noch nie gewesen, natürlich nicht. Ich hatte nur davon gehört, von den Toiletten mit Spiegeln in vergoldeten Rahmen, von Kellnern im Smoking, von einem Aquarium,
in dem Hummer und Krebse herumkrabbelten, und einer blau ausgeleuchteten Bar mit weißen Ledersesseln.
Ich hatte mich schon in meinem neuen Outfit auf einem weißen Ledersessel vor dem Aquarium gesehen, mit einem Cocktailglas in der Hand. Ein Cocktail mit tropischen Früchten, den man durch einen Strohhalm schlürfen musste; ich hatte schon geübt, ohne Geräusche mit solch einem Strohhalm zu trinken. Hinter der Glasscheibe die starren Augen der Hummer. Oder der anderen Viecher, die anscheinend essbar sind. Ich habe so etwas nie probiert. Ich wollte es auch nicht. Mir hätte ein Teller mit leckeren Nudeln vollständig gereicht. Es ging ja nur darum, dass man so was auch mal erlebte. Sich einreden konnte, dass man dazugehörte.
Dies »Dazugehören«, so sehe ich es heute, es war für mich zur Besessenheit geworden, nichts anderes zählte mehr daneben.
Ich brauchte nach Ravis Anruf mindestens zwei Stunden, um voll und ganz zu begreifen, was diese Ausladung bedeutete. Sie bedeutete, so glaubte ich, dass ich nichts mehr hatte, auf das ich mich freuen konnte. Sie bedeutete, dass ich, wie insgeheim befürchtet, tatsächlich keinen Freund mehr hatte. Niemanden, auf den ich mich verlassen konnte. Bedingungslos.
Am Abend lag ich wie tot auf meinem Bett. Meine Mutter kam und sagte, das Essen sei fertig. Sie war in diesen Tagen stets gut aufgelegt, weil sie sich auf ihren neuen Job freute, den sie bald antreten würde. Eigentlich hätte ich ihr gern den Gefallen getan, mit ihr gemeinsam am Tisch zu sitzen. Aber ich schüttelte nur den Kopf. Ich wusste, dass ich mich sofort übergeben würde, wenn ich nur einen Brotkrümel in den Mund nähme.
Am nächsten Morgen bin ich zur üblichen Zeit aufgestanden. Meine Mutter hat mir das Frühstück gemacht. (Für den Rest des Monats konnte sie
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