Bold, Emely
ahnte etwas davon, dass sich sein Sohn der lieblichen Gefangenen allabendlich aufdrängte.
Vanora hätte die Macht gehabt, sich vor den Übergriffen Grants zu schützen, hätte damit aber auch ihre Fähigkeiten preisgegeben. Doch niemals wollte sie sich zum Werkzeug dieser Männer machen lassen. Daher ertrug sie die Übergriffe und nur ihre Tränen zeigten ihm, dass er Vanora gegen ihren Willen nahm. Am Anfang überlegte Vanora, ob sie ihrem Leben ein Ende setzen sollte, doch auch diesen Sieg wollte sie ihrem Peiniger nicht schenken. Und später, als sie bemerkte, dass sie ein Kind erwartete, war ihr selbst dieser Ausweg verbaut.
Ich konnte kaum fassen, was ich da las. Vanora, die Frau, die mir in meinen Träumen erschienen war, sollte also tatsächlich gelebt haben? So ganz hatte ich Roy seine Geschichte nicht abgekauft, aber nun, da ich alles so schwarz auf weiß vor mir hatte, konnte ich nicht verhindern, dass alles in mir kribbelte. Das war irgendwie schräg! Normalerweise passierten einem solche Dinge doch nicht, oder?
Und wenn es Vanora wirklich gab, stimmte dann auch alles, was Payton mir gesagt hatte? Natürlich hatte ich seine schnell verheilende Wunde mit eigenen Augen gesehen. Auch der Riese Alasdair war mir nur zu gut in Erinnerung, aber nun, mit etwas Distanz zu Schottland und sicherem, amerikanischen Boden unter den Füßen wusste ich nicht, was ich glauben sollte. Konnte mir Großmutters Büchlein alle Antworten geben, nach denen ich suchte? Und wenn ja, was würde das für mich ändern? Konnte ich Payton dann vielleicht verzeihen? Nein, vermutlich nicht. Immerhin war er ein Mörder!
Alles in mir sträubte sich, den süßen Schotten, der mir meinen ersten Kuss gegeben hatte, mit einem eiskalten, berechnenden Mörder gleichzusetzen. Ich hatte wirklich gedacht, ich könnte in seine Seele blicken. Und was ich meinte dort gesehen zu haben, war Traurigkeit, Einsamkeit und Schmerz. Passte das zu dem Bild, das ich nun von ihm hatte?
Oh Payton! Warum? Warum war alles so schrecklich kompliziert? Je länger ich an Payton dachte, desto stärker kehrte der Schmerz zurück, der mein Herz in seiner eisigen Klaue umklammert hielt. Unbemerkt tropften einige meiner Tränen auf das alte Schriftstück.
Als Vanora das Kind zur Welt brachte, wurde sie noch in derselben Nacht von Grant davongejagt. Geschwächt von der Entbindung, ohne ihr Kind auch nur einmal gesehen zu haben, wurde sie von Wachen vor die Burg geschleift und bedroht. Nie wieder sollte sie sich auf dem Land der Stuarts blicken lassen.
So flüchtete Vanora bis über die Grenze auf das Land der Camerons, wo sie zum Glück gnädig aufgenommen und versorgt wurde. Und obwohl Vanora nun frei war und hätte gehen können, wohin sie wollte, blieb sie doch den Rest ihres Leben dort. Sie hatte es nicht über sich gebracht, ihr Kind zu verlassen. Was aus ihm wurde, wusste sie nicht, aber sie spürte, dass es am Leben war. Dieses Wissen und die Hoffnung, es einmal zu Gesicht zu bekommen, reichten aus, sie für immer an ihr neues Zuhause zu fesseln. Doch zumindest eines war ihr gelungen: Niemals hatte sie ihre Kräfte offenbart.
Liebe Muireall, sicher fragst du dich, was die Geschichte der Hexe mit dir zu tun hat. Ganz einfach: In der Nacht, in der du zur Waise wurdest, hat Vanora uns beiden das Leben gerettet.
Woher Vanora wusste, was geschehen würde, kann ich dir nicht sagen, doch sie kam, wenige Minuten bevor im Hof der Burg die Hölle losbrach, in das Gemach deiner Eltern gestürmt. Sie weckte Tomas, berichtete ihm von ihrer Vision und von dem drohenden Überfall. Schnell war Tomas bereit und bei den Waffen, doch als er in den Burghof kam, war es zur Verteidigung der Burg beinahe zu spät. Das massive Tor schwang auf und ein berittener Trupp bis an die Zähne bewaffneter Männer drang in den Hof. Die Camerons waren vollkommen überrumpelt. Nur wenige Wachen taten nachts Dienst und wurden entweder im Schlaf überrascht, oder waren noch unbewaffnet, als der Kampf begann. Tomas eilte zu seinen Männern und Isobel, seine Frau, hielt dich, ihre weinende Tochter, im Arm. Vanora warnte sie eindringlich, sich und das Kind in Sicherheit zu bringen, die Burg durch den kleinen Gang hinter dem Küchentrakt zu verlassen und sich dann zu verstecken. Die Worte der Hexe hallten wie Donner durch Isobels Schlafgemach, doch deine Mutter war wie versteinert. So schnell Vanora gekommen war, so schnell war sie plötzlich verschwunden. Nur die Wahrheit ihrer Worte blieb
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