Bold, Emely
knieten sie sich neben das Tier. Seans Gesicht spiegelte sich in den dunklen glänzenden Augen des Hirsches und er sah seinen Vater mit großen Augen an, als ihm dieser den Sgian dhu reichte. Obwohl die Klinge sehr scharf war, verwendete Sean seine ganze Kraft, als er die silberne Schneide gegen den pulsierenden Hals des Tieres drückte. Mit einem schnellen, kraftvollen Schnitt erfüllte er seine Aufgabe und das warme Blut strömte über seine Hand und tränkte seinen Kilt. Fingal, der Seans Zittern bemerkte, legte seinem Sohn lobend die Hand auf die kleine Kinderschulter. So verweilten sie eine Weile neben dem erlegten Hirsch und keiner der beiden sagte ein Wort. Erst das Auftauchen zweier weiterer Jäger beendete diesen intimen Moment, in dem Sean das erste Mal mit seinen eigenen Händen einem Tier das Leben genommen hatte. Der Rest des Tages war an Sean nur so vorbei gezogen. Gemeinsam wurde der Hirsch, etliche Hasen sowie zwei Rehe zurück in die Burg geschafft. Sean hatte sich am Brunnen das Blut von den Händen gewaschen und sein Messer gereinigt. Der Horngriff des Sgian dhu war reich mit Schnitzereien von einer Jagdszene geschmückt. Dieses Messer war dazu gemacht, in einer Scheide im Stiefel oder in der Achsel getragen zu werden. Stolz strich Sean über die Klinge, noch immer das Gefühl des sterbenden Hirsches unter seinen Händen.
Viele Jahre lang, hatte Sean das Messer von da an täglich getragen, war mir seinem Gewicht, seiner Balance und seiner Klinge verwachsen, bis es beinahe schon ein natürlicher Teil von ihm selbst war. Doch dann hatten sich irgendwann die Zeiten geändert, das Messer war unwichtig geworden, und später zusammen mit wenigen anderen Erinnerungen in dieser Truhe gelandet.
Nun stand Sean da, genau wie damals strich er über die Klinge und sofort verschmolz er wieder mit dem Messer. So als hätte es die vielen Jahre, in denen er nicht einmal an die Existenz der Waffe gedacht hatte, nicht gegeben. Doch eine Frage blieb offen: Warum holte er gerade jetzt das Messer hervor? Was stand ihm bevor, dass er das tiefe Bedürfnis verspürte, sich dieser Sache nicht ohne die tödliche Klinge zu stellen?
Sean kannte keine Antwort auf diese Frage, doch in all der Zeit hatte er eines gelernt: Seinem Instinkt zu vertrauen. Und sein Instinkt war es gewesen, der ihn die Truhe nach dem Messer hatte durchsuchen lassen. Darum zuckte er nur die Schultern und steckte den Sgian dhu in den ledernen Gurt an seinem Stiefel.
Kapitel 22
Gestern waren meine Eltern in ihren Wellnessurlaub aufgebrochen. Ashley und ich hatten uns stillschweigend darauf geeinigt, uns den Rest der Woche zu vertragen, da sowieso noch nicht ganz klar war, wie lange wir uns noch ertragen mussten. Onkel Eddie hatte angerufen, und gesagt, er wäre irgendwann in den nächsten Tagen mit seiner Tour fertig und käme dann direkt hierher, um Ashley abzuholen. Darum wollte sie ihre letzten Tage am Silverlake genießen und hatte sich, kaum dass meine Eltern aus dem Haus waren, an den Strand gelegt. Ich dagegen wollte meine Ruhe haben. Noch immer schaffte ich es nicht, Payton aus meinen Gedanken zu verdrängen. Im Gegenteil. Es fiel mir von Tag zu Tag schwerer, mich auf die einfachsten Dinge wie Atmen, Essen oder Trinken zu konzentrieren. Ich vermisste ihn so! Ein riesiges Loch brannte in meiner Brust und nahm mir jede Energie. Darum suchte ich Abwechslung. Oder zumindest redete ich mir ein, dass meine Absicht, mich mit Grandmas Tagebuch zu beschäftigen, der Ablenkung dienen würde. Insgeheim musste ich mir aber eingestehen, dass ich selbst bei diesem Vorhaben, irgendwie mit meinen Gedanken in Schottland war. So suchte ich in dem Buch speziell nach Einträgen, die mir etwas über die Camerons verraten würden. Ich schlug es auf und stellte verwundert fest, dass es sich entgegen meiner Annahme nicht wirklich um ein Tagebuch handelte. Ich wusste nicht, was ich hier vor mir hatte, aber so alt, wie das Papier dieses Buches war, konnte unmöglich meine Großmutter die Verfasserin sein. Vorsichtig blätterte ich zur ersten Seite und hielt die Luft an:
Frankreich, 1748
Liebe Muireall,
ich, Marta McGabhan, schreibe diese Zeilen, weil mir keine Zeit mehr bleibt, alles was ich weiß, an dich, für deren Sicherheit ich schon seit deiner Geburt sorge, weiterzugeben. Selbst mit deinen acht Jahren kannst du unmöglich begreifen, was ich dir zu hinterlassen habe.
Darum schreibe ich mein Wissen nieder, in der Hoffnung, du mögest eines
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