Bold, Emely
sondern ritt mit dir davon. Die ganze Nacht und den ganzen darauffolgenden Tag hielt ich nicht an, außer um das Pferd zu tränken oder dich zu füttern. Wie an einer Schnur wurde ich immer weiter gezogen, bis wir schließlich etliche Tage später die Grenze nach England passierten. Wenn es nach mir gegangen wäre, hätte ich uns hier in Sicherheit gewähnt, doch das Amulett brannte heiß in meiner Hand und so machten wir uns auf, auch England zu verlassen. Es vergingen viele Wochen – Wochen, in denen wir froren, hungerten und uns kaum mehr auf den Beinen halten konnten. Aber als wir am Abend eines weiteren Tages über einen Hügel ritten, sahen wir anstelle von immer grünen Feldern und dunklen Wäldern am Horizont das Wasser. Dahinter lag Frankreich, und das erste Mal, seit wir unsere Heimat verlassen hatten, kühlte das Amulett sich ab.
Ich schlug das Buch zu. Mit zitternden Fingern griff ich mir an den Hals. Die Kette lag kühl und hart in meiner Hand. Schon in Schottland hatte ich mich insgeheim von dem Indiana Jones in mir verabschiedet. Dies hier war kein Film. Es war das echte Leben – es war mein Leben – und es stand gerade völlig auf dem Kopf! Was war hier nur los? Wurde ich verrückt? Das musste es sein, es war die einzig logische Erklärung!
Erneut blätterte ich zu der Seite vor, bei der ich gerade geendet hatte, doch ich brachte nicht den Mut auf, weiterzulesen. Die Schrift der Amme Marta wurde von Zeile zu Zeile schlechter, anscheinend hatten ihre Kräfte sie schon beinahe verlassen. Ich blätterte einige Seiten weiter vor. Hier führte eindeutig jemand anderes die Feder. Die Buchstaben waren nicht mehr klein und zackig, sondern groß, schwungvoll und kräftig.
Boston, 1760
Ich bin Muireall Cameron. Vor zwölf Jahren erreichte ich zusammen mit diesem Buch, meinem Amulett und einer Handvoll weiterer Habseligkeiten dieses schöne Land. Meine Amme Marta hat meinen Aufbruch in die neue Welt leider nicht mehr erleben dürfen, doch an ihrer Stelle begleitete mich Sarah. Sie sorgte auf dem Schiff für mich, und als wir gemeinsam an Land gingen, beschloss sie, bei mir zu bleiben. Noch heute ist mir Sarah eine gute Freundin und Vertraute. Doch wir gehen nun getrennte Wege, denn ich habe kürzlich geheiratet und gestern eine gesunde Tochter zur Welt gebracht.
Darum scheint es mir angebracht, eine weitere Seite dieses Buches – meiner Geschichte zu füllen. Ich werde nicht vergessen, von wem ich abstamme und auch meine Kinder sollen dies niemals vergessen. Darum werde ich hier so lange ich lebe, meine Nachfahren aufschreiben und hoffe, dass eines Tages jemand anderes diese Aufgabe weiterführt. Für uns - und um zu zeigen, dass der feige Mord an meinen Ahnen die Camerons nicht vernichtet hat, sondern nur geschwächt. Eines Tages werden wieder genauso viele Camerons die Welt bevölkern, wie einst und dann wird womöglich die Zeit kommen, das Unrecht, das man uns zugefügt hat, zu vergelten.
Was Muireall hier so sorgfältig begonnen hatte, füllte beinahe das ganze Buch. Seite um Seite hatte zuerst sie, später dann jemand anderes den Stammbaum meiner Familie aufgezeichnet. Es mussten mindestens dreizehn Generationen sein, schätzte ich. Manche Familien nahmen ganze Seiten ein, so viele Kinder hatten sie bekommen, manche endeten in einem einzelnen Zweig. Doch alles in allem konnte ich getrost behaupten, dass die Linie der Camerons definitiv nicht 1740 geendet hatte. Als ich zur letzten beschriebenen Seite blätterte, zitterten mir die Hände.
Hier war die Tinte noch dunkelblau, nicht so verblichen wie auf den ersten Seiten. In der schönen, schnörkellosen Handschrift meiner Grandma stand dort:
Es stimmte also. Ich war eine Nachfahrin der Camerons. Doch hatte das für mich nach so langer Zeit überhaupt noch eine Bedeutung? Konnte oder wollte ich Payton wegen etwas verurteilen, was er vor so langer Zeit getan hatte? Immer wieder ging mir sein Kuss durch den Kopf. Dieser Kuss war nicht gespielt. Er war echt und voller Liebe, das hatte ich gespürt. Wieder stiegen mir Tränen in die Augen. Ich hatte mich tatsächlich in diesen Schotten verliebt, und als wäre das nicht genug, schien alles, was ich bisher erfahren hatte, die Wahrheit zu sein. Wie sonst sollte es möglich sein, dass ich diese Träume hatte. Dass Roys Geschichten anscheinend der Wahrheit entsprachen, dass in einem Buch auf Grandmas Dachboden der Beweis für alles zu finden war? Ich schlug es zu und kaute
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