Bombay Smiles
Kind.
Befremdet nahm ich all die Leute wahr, die um die Frau herumstanden. Ich hob den Säugling hoch - es war ein Mädchen -, um zu sehen, was ihm fehlte. Da packte mich das Grauen: Der Säugling war weder krank, noch schlief es. Er war tot.
»Ihr eigener Vater hat das Mädchen ertränkt«, erklärte Ajay, der bestürzt neben mich getreten war. »Wenn Kavita weitergelebt hätte, hätte ihre Familie eine Mitgift für sie aufbringen müssen.«
Ich spürte den kleinen leblosen Körper in meinen Armen kaum noch und verharrte. Sprachlos betrachtete ich die ungerührten Gesichter der Menschen. Für sie war die Situation anscheinend nicht weiter erwähnenswert.
Hass ist eine sehr schlechte Regung. Gandhi sagt sogar, dass es besser sei, gar nicht zu lieben, wenn die Liebe uns dazu treiben sollte, andere zu hassen. Dennoch spürte ich in diesem Moment tiefen Hass. Auf den Vater, der Kavita, seine eigene Tochter, getötet, ihr eine Zukunft genommen und damit auch das Leben der jungen Frau, ihrer Mutter, zerstört hat. Hass auf die Situation sowie meine vollkommene Machtlosigkeit. Und auch auf die Menschen ringsum.
Ich legte Kavitas Körper auf die Pappe zurück, berührte die Füße ihrer Mutter, eine Geste des Respekts sollte es sein, und klammerte mich für den Moment an einen hinduistischen Glaubenssatz: Wenn es nämlich eine Wiedergeburt gab, dann schwebte Kavita jetzt möglicherweise durch die Lüfte. Im Körper eines Vogels oder eines wunderschönen, purpurfarbenen Schmetterlings. Purpurfarben wie die Himmelskuppel, die sich in der Abenddämmerung über dieser Szene wölbte.
6
Priyanka
Betrachten und zuhören, das ist große Kunst.
Durch das Betrachten und das Zuhören werden
wir unendlich viel mehr lernen als durch das Lesen
von Büchern.
Bücher sind wichtig, aber das Beobachten und das Zuhören schärfen die Sinne.
KRISHNAMURTI
Der Countdown für meine Rückreise lief, mir blieben nur noch wenige Tage in dieser Riesenstadt mit ihrem wahnsinnigen Rhythmus. Ich hoffte fest, dass die Rückkehr in meine Heimat die unzähligen intensiven Sinneseindrücke einfach auslöschen würde, wie die Meereswellen in den Sand gezeichnete Liebesbotschaften fortspülen.
Einen Stadtteil, den ich aus Zeitungsberichten kannte und über den ich auch schon einen Dokumentarfilm gesehen hatte, wollte ich aber vor meiner Rückreise unbedingt noch sehen.
»Nach Kamathipura«, rief ich also dem Taxifahrer zu.
Er bremste abrupt.
»Da fahre ich nicht hin. Sie können ja machen, was Sie mögen, aber ich fahre da nicht hin«, sagte er barsch. Jede Widerrede war zwecklos.
Gelassen stieg ich aus - diese Reaktion würde mich bestimmt nicht davon abhalten, mir das Viertel anzusehen. Wenn es sein musste, würde ich auf einem Elefanten dorthin reiten. Ich würde jedenfalls nicht eher ins Bett gehen, bevor ich Kamathipura gesehen hatte.
Ich fuhr mit dem Zug bis zur Grant Road. Dort ließ ich mich treiben, nahm in Kauf, mich zu verlaufen. Die Gegend wechselte beständig ihr Antlitz, an einer Ecke war es heller, an einer anderen wieder dunkler. Streckenweise wimmelte es nur so von Menschen, anderswo lag nur ein einsamer, abgemagerter Alter auf seiner elenden Pappe.
Nachdem ich zwei Stunden ziellos umhergelaufen war, erreichte ich Kamathipura. Ich erkannte es sofort: Es war dunkel, doch über einigen der Türen hingen rote Glühbirnen, weshalb dieser Stadtteil als »Rotlichtviertel« bezeichnet wurde.
Ich war ausdrücklich gewarnt worden, dass es gefährlich sei, sich in den dortigen Gassen aufzuhalten. Ich ignorierte die Warnungen. Lediglich von meiner Neugier begleitet, lief ich allein durch die Dunkelheit.
Kamathipura gilt als das größte Prostituiertenviertel Asiens. Viele der Prostituierten, die mitten in Bombay ihrem Gewerbe nachgehen, sind Mädchen
und Frauen zwischen sieben und 18 Jahren, die von ihren eigenen Familien verkauft oder aus angrenzenden Ländern wie Bangladesh oder Nepal hierher verschleppt wurden.
Ursprünglich hatten die britischen Kolonialherren Kamathipura als »Erholungsgebiet« für die eigenen Truppen konzipiert. Als sie das Land verließen, begann das Geschäft mit dem Sex.
Vor ein paar Monaten hatte ich in Barcelona den Dokumentarfilm »The Day My God Died« von Andrew Levine gesehen, der von diesem Viertel handelt. Der Film hatte mich wegen seiner Genauigkeit und der einprägsamen Bilder sehr mitgenommen. Nicht zuletzt, weil er die extreme Grausamkeit anprangerte, die hier alltäglich war. Aus dem Film
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