Bombay Smiles
diese Kinder sah? Warum kam keine andere Reaktion von mir?
Ich las viel über die Armut in der Welt - und wurde immer unruhiger. Über eine Milliarde Menschen müssen gegenwärtig mit einem Tageseinkommen von einem Dollar ihre gesamte Familie ernähren; ungefähr drei Milliarden müssen mit zwei Dollar auskommen. Zwei Milliarden Menschen leben ohne ärztliche Versorgung. Täglich sterben 20 000 Menschen, weil sie arm sind. Zwei Drittel der extrem
Armen sind unter 15 Jahre alt. Siebzig Prozent der Armen sind Frauen und Kinder.
Es gibt auf der Welt, die wir ja in Erste und Dritte Welt einteilen, 866 Millionen Analphabeten; zwei Milliarden Menschen leben ohne Elektrizität. Und 80 Prozent der Weltbevölkerung hat keinen Zugang zu den grundlegendsten Mitteln der Telekommunikation. Es gibt keine gerechte Verteilung von Gütern auf der Erde. Man braucht sich nur zu vergegenwärtigen, dass es in Manhattan, dem Zentrum New Yorks, mehr Telefonleitungen gibt als in ganz Schwarzafrika.
Ich kam nicht bis zum Hotel. Getrieben von einem kaum fassbaren Gefühl, betrat ich das erstbeste Cybercafé und suchte im Internet nach Waisenhäusern in Bombay.
Vielleicht kann ich ein Heim besuchen und eine Reportage darüber schreiben, die ich dann an eine Zeitung verkaufe. Das wäre bestimmt eine Hilfe, dachte ich.
Ich setzte mich mit Vinay Somani in Verbindung, dem Verantwortlichen für Karmayog, ein Bombayer Netzwerk von Hilfsorganisationen in allen möglichen Bereichen. Vinay lud mich noch am selben Abend in sein Büro ein, das sich in Flora Fountain befand.
Bereits im Büro, sagte er: »Du bist nur noch einen Tag in Bombay? Nun ja. Die Wege hier sind lang, das hast du sicher schon gemerkt. Ich weiß nicht,
ob du es noch schaffst, ein Waisenhaus zu besuchen. Wird schwierig.«
»Es ist mir wirklich wichtig. Ich möchte es unbedingt. Bitte.«
Als ich mich aus dem bequemen Ohrensessel erhob und gehen wollte, hatte ich nur wenig Hoffnung, dass Somani sich wegen des Heimbesuchs noch einmal melden würde.
Doch plötzlich hielt mich Vinay Somani auf.
»Warte mal! Es gibt da ein Heim, das du dir vielleicht ansehen kannst«, sagte er, griff sofort zum Telefonhörer und wählte eine Nummer.
»Hallo Atul, wie geht’s? Ja … Natürlich … Ja, ich weiß … Du wirst schon sehen … Es ist gerade ein junger Mann aus Spanien bei mir, ein Journalist. Er bleibt nur noch einen Tag in Bombay, würde aber gerne noch ein Waisenhaus besuchen. Könnte er morgen kommen, geht das? Es wird knapp, er reist morgen Abend ab … Du holst ihn ab? Ja? Prima!«
Vinay Somani legte auf und lächelte mich väterlich an.
Es sei eine sehr kleine, ländliche Einrichtung, sagte er, die außerhalb der Stadt läge. Ein Haus mit 40 Kindern, nicht gerade in der besten finanziellen Lage.
»Wie heißt es?«, fragte ich, meine Freude konnte ich kaum zurückhalten.
»Kartika Home.«
»Ein schöner Name«, dachte ich noch.
8
Kartika Home
»Wo bin ich hergekommen? Wo hast du mich gefunden?«, fragt das Kind seine Mutter. Sie muss gleichzeitig lachen und weinen, drückt das Kind an die Brust und antwortet: »Du warst versteckt in meinem Herzen … du bist ein Herzenswunsch.«
RABINDRANATH TAGORE
Im Morgengrauen des folgenden Tages machte ich mich auf zum Gate of India, wo ich Atul Sharma treffen sollte, den Leiter des Kartika Home. Ich war früher als vereinbart dort und spazierte deshalb ein wenig in der Gegend herum. Die Sonnenstrahlen wärmten mich.
Atul kam pünktlich, ein eher untersetzter Mann, der auf mich gutmütig wirkte. Hinter der Brillenfassung aus transparentem Kunststoff blickten mich zwei freundliche Augen an.
»Du bist Jaume?«, fragte er mich leicht verwirrt.
»Ja, der bin ich.«
Wir plauderten ein wenig über Bombay und meine Arbeit als Journalist, stiegen in den Wagen, den ein gewisser Aditya fuhr, sein dichter Schnurrbart sowie seine sehr dunkle Haut fielen mir sofort auf.
Wir fuhren von Süden nach Norden durch die Stadt, durch Stadtteile wie Worli, Mahim, Bandra, Santa Cruz … Mir kam es wie eine Abschiedsfahrt vor. Mein Rucksack lag im Kofferraum.
Alle Autofenster waren heruntergekurbelt. Ich schloss die Augen und ließ mir den Wind ins Gesicht wehen. Die Gerüche, die mir von Zeit zu Zeit in die Nase drangen, weckten Erinnerungen an die vergangenen Tage. An den üblen Gestank in Poojas Viertel, an die Meeresbrise, die jeden Tag über Noors Beinstümpfe strich und an den süßlichen Duft von Kavitas leblosem Körper.
Es waren
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