Bombay Smiles
bitte.«
Es waren ungefähr 40 Kinder und sie setzten sich gleich auf den Boden - ohne den Fremden, der ihr Zuhause besuchte, aus den Augen zu lassen.
» Good morning. «
» Good morning, uncle «, antworteten sie mit scheuen, aber auch wissbegierigen Blicken.
Nach der kurzen Begrüßung spielten wir Carom, ein dem Billard ähnliches Spiel, bei dem man versucht, auf einer glatten Holzfläche mit einer Scheibe gegnerische Steine in Löcher zu schieben, die in der Bande angebracht sind. Beim Spielen redeten wir viel und lachten miteinander.
Die Kinder fragten mich über Spanien aus. An der Wand hing eine alte Landkarte und ich forderte sie auf, mir jenes Land zu zeigen, aus dem ich kam. Die Kinder deuteten auf die USA. Nein, Erdkunde war wirklich nicht die große Stärke der Inder.
»Oh je … ihr kennt euch aber schlecht aus!«, sagte ich mit einem Lächeln.
Sie antworteten mir mit einem Lachen, bei dem sie sich verschämt die Hände vor den Mund hielten.
»Nehmt die Hände doch runter, ihr lacht so schön!«, sagte ich - und erntete noch mehr Gelächter.
Als die Kleinsten langsam Zutrauen gefasst hatten, fingen sie an, miteinander zu raufen und sich hinter meinem Rücken zu schubsen. Die Größeren löcherten mich mit Fragen, hörten mir gebannt zu und nickten. Jede meiner Antworten saugten sie wissbegierig auf.
Den Kindern, die da vor mir standen, ging es in ihrem vorherigen Leben vermutlich ähnlich oder
sogar noch schlechter als Pooja, Noor oder den Jungs, die ich in den Bombayer Straßen kennengelernt hatte. Sie alle waren Opfer einer Gesellschaft, die sie in den Kerker der Armut verbannt und zu Qualen der Ungerechtigkeit verdammt hatte.
Engel eines vergessenen Himmels, nichts weniger als das waren sie für mich. Und ich hatte die unfassbare Ehre, sie kennenzulernen.
»Welche Schule besuchen die Kinder denn?«, fragte ich Atul.
»Wir unterrichten sie in der Garage. Die Kinder auf eine Privatschule zu schicken, können wir uns nicht leisten. Und die städtische Schule ist dauernd geschlossen. Eine winzige Bruchbude ist das. Für Millionen von Kindern, die in der Gegend leben.«
Ich sprach mit Atul darüber, wie die Kinder gelebt hatten, bevor sie ins Heim gekommen sind. Ich bat Atul, leise zu sprechen, um das Ehrgefühl der Kinder nicht zu verletzen. Es sollte über sie nicht gesprochen werden wie über eine Zirkusattraktion. Obwohl ich die Kinder gerade eben kennengelernt hatte, kam ein ungewöhnlich starkes Bedürfnis über mich, sie zu beschützen.
Auf der Treppe zum ersten Stock saß ein kleines Mädchen und sah uns lächelnd zu.
»Wie heißt sie?«
»Das ist Goopta. Ihr Vater hat sie vergewaltigt«, flüsterte mir Atul zu.
»Wie furchtbar.«
»Nicht nur ihr Vater tat es. Auch die beiden Großväter und ihre beiden Brüder.«
Ich war sprachlos.
»Ihre Mutter wollte das nicht länger mit ansehen …«
»… und hat sie hergebracht«, fiel ich ihm ins Wort - froh, dass die Geschichte damit ein Ende hatte.
»Nein, sie hat Goopta an ein Bordell in Kamathipura verkauft. Wir haben sie dann da rausgeholt.«
Ich deutete auf ein anderes Mädchen, das in der Nähe saß.
»Und das Mädchen da, im grünen T-Shirt?«
»Das ist Archana. Seit ihrem fünften Lebensjahr musste sie als Prostituierte arbeiten. Sie ist dermaßen an ihren Genitalien verletzt, unbeschreiblich.«
»Und dieser ältere Junge, dort hinten?«
»Das ist Raj. Wir haben ihn im Churchgate-Bahnhof gefunden. Seinen Vater kennt er nicht, seine Mutter ist Alkoholikerin. Sie ritzte ihm als Baby mit einem Messer Kerben in die Arme. Als Raj sechs Jahre alt war, ist er nachts abgehauen. Er lebte im Bahnhof. Er verbrachte seine Zeit bei Straßenbanden, schnüffelte an Klebstoff, klaute Handtaschen.«
All jene Geschichten waren so schrecklich, dass es mir sehr schwerfiel, entspannt zu wirken.
Ich wurde auf einen Jungen aufmerksam, der uns fröhlich anlächelte. Es sah aus, als hätte ihm irgendjemand
einen Kochtopf aufgesetzt und alles an Haar abgeschnitten, was darunter hervorschaute.
»Und der Junge da?«
»Rohit wurde erst gestern von seinem Großvater zu uns gebracht. Seine Eltern haben sich getrennt und der Großvater sagt, er sei zu alt, um sich um den Jungen zu kümmern. Er hat ihn hergebracht, damit er eine Zukunft und ein Dach über dem Kopf hat.«
»Er sieht glücklich aus.«
»Na ja …«
»Was ist denn?«
»Er ist Epileptiker und hatte in den letzten Monaten einige schwere Anfälle. Wir wissen nicht, was wir dagegen
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