Bombay Smiles
tun sollen.«
»Warum bringt ihr ihn nicht zum Arzt? Es muss doch eine Möglichkeit geben, ihn zu behandeln.«
»Ja, aber das würde uns monatlich 500 Rupien kosten. Das können wir uns nicht leisten.«
500 Rupien, also zehn Euro, überschlug ich schnell.
Atul blickte stumm auf den Boden, seine Traurigkeit war nicht gespielt.
»Wir schreiben rote Zahlen. Wir können gerade so das Essen für die Kinder bezahlen. Aber erwähne das bitte nicht in deinem Artikel. Schreib, dass wir Hilfe brauchen, aber nicht, wie miserabel es uns geht.«
Als wir die Siedlung verließen, bemerkte ich zwei Männer, die von einem Wagen aus das Waisenhaus
beobachteten. Sie sahen mich mit unverhohlener Feindseligkeit an.
»Was wollen die?«
»Wir wissen es nicht. Sie treiben sich schon seit ein paar Tagen hier rum. Es könnten Zuhälter aus Kamathipura sein. Sie warten darauf, dass wir das Haus schließen müssen. Dann können sie ein paar Kinder mitnehmen.«
»Kann das wirklich passieren?« Ich war entsetzt, kam mir vor, wie in einem schlechten Horrorfilm.
»Ja«, antwortet Atul. »Bitte schreib einen Artikel, damit wir Unterstützung bekommen.«
Da verstand ich plötzlich, was es bedeutet, wenn man sagt, dass dies oder das einem »das Herz bricht«. Ich spürte einen so großen Druck, als solle mein Brustkorb bersten. Als schlüge mir jemand mit voller Wucht aufs Herz. Als zerrisse man mir mein Herz in tausend Stücke.
Die Stücke verlor ich nach und nach auf dem Weg zum Flughafen. Wenn ich irgendwann hierher zurückkomme, dachte ich unterwegs unter Tränen, werde ich es machen, wie der Däumling aus dem Märchen. Ich werde den Weg zurück zum Heim finden, indem ich die Stücke, meine Herzkrumen, auflese.
Meine Reise war zu Ende. Wir waren in Chhatrapati Shivaji angekommen, dem internationalen Flughafen Bombays. Als ich ins Flugzeug stieg, tat mir alles weh. Mein Herz aber lag in zuckenden Fetzen auf der Straße zum Waisenhaus.
Neben mir saß eine indische Nonne, die die Falten ihrer Tracht glatt strich. Sie fragte, ob ich denn einer religiösen Glaubensgemeinschaft angehöre.
»Ein Ordensbruder, ich?«
Aus dem Augenwinkel betrachtete ich mein Spiegelbild in der Fensterscheibe.
Es war kein leichter Flug. Hunderte, Tausende Gedanken drängten sich in meinem Kopf, während ich durch das runde Fenster in den dunklen Himmel schaute.
Von Zeit zu Zeit drehte ich mich zur anderen Seite und sah das gütige Gesicht der Nonne, deren Lächeln mich tröstete. Als wollte das Schicksal mir durch dieses freundliche Antlitz bedeuten, dass ich mich nicht täuschte. Dass die irrwitzigen Ideen in meinem Kopf einer Vernunft des Herzens folgten. Und dass die Entscheidungen, die ich nach meiner Ankunft in Barcelona treffen wollte, richtig waren.
Schon eigenartig, welche Zeichen einem das Schicksal in Schlüsselmomenten des Lebens sendet. Ob mithilfe eines Werbeplakats oder einer zufällig gehörten Radiosendung - oder eben durch ein gutmütiges Antlitz.
Den Rest des Fluges über versank ich in den Schriften von Tagore:
Was macht es aus, dass wir den genauen Sinn der allumfassenden Harmonie nicht verstehen? Ist sie nicht wie der Bogen, der über eine Saite streicht und
ihr augenblicklich sämtliche Töne entlockt?
Sie ist die Sprache der Schönheit, die Zärtlichkeit, die vom Herzen der Welt kommt und unser eigenes Herz direkt berührt.
Hierbei fiel mir ein, was meine Großmutter Marta immer sagte: »Tu es nur, wenn dein Herz es dir rät.«
Mein Herz riet mir damals sehr viele verschiedene Dinge. Ich hatte zwar Mühe, es zu verstehen, doch mein Herz hatte noch nie zuvor so eindringlich zu mir gesprochen.
9
Die weiße Wand
Halt aus, auch alleine, wenn die anderen gegen
dich sind. Sieh ihnen geradewegs in die Augen,
selbst wenn diese Augen blutunterlaufen sind.
Hab keine Angst. Vertrau’ der leisen Stimme
deines Herzens, die von dir verlangt, alle und
alles aufzugeben.
Um zu erkennen, was deinem Leben einen Sinn gibt, musst du bereit sein zu streben.
GANDHI
Nach meiner Ankunft in Barcelona setzte ich mich sofort mit zwei nicht staatlichen Hilfsorganisationen in Verbindung. Beide waren zu einem Treffen bereit. Aber als ich ihnen die Situation des Waisenhauses schilderte und sie bat, sich des Heimes anzunehmen, kam es zu Schwierigkeiten.
Auch andere Gespräche, die ich führte, brachten nicht den gewünschten Erfolg. Einige Organisationen erklärten, das Waisenhaus läge außerhalb ihrer geografischen Zuständigkeit; andere baten um
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