Bombay Smiles
eine ganze Weile nicht beruhigen.
Ramesh wollte also auf keinen Fall, dass ihn irgendein Schüler mit nur einem Strumpf sah. Deshalb mussten wir ihn im Büro verstecken, bis ihm jemand ein neues Strumpfpaar aus dem Waisenhaus geholt hatte. Und sobald ein Mitschüler auf dem Gang erschien, verlangte er mit voller Überzeugung und einer Portion Dreistigkeit von uns, die Tür immer wieder zuzumachen. Mit Strümpfen an den Füssen stampfte er dann triumphierend in seine Klasse zurück.
An einem sonnigen Novembermorgen kam Sharmila mit verzerrtem Gesicht ins Büro gestürzt und sagte:
»Es ist etwas Grässliches passiert! Mit Ramesh! Sie haben ihn in einem Weiher gefunden.«
Wie wir später erfuhren, wurde der Junge seit Sonntag vermisst. Seine Familie hatte die Leiche gefunden.
Ramesh muss über die Felder gelaufen sein, wo ihn offenbar eine Schlange gebissen hatte. Er schleppte sich weiter. Und stürzte zuletzt in den Weiher.
Es traf mich schwer, dass mein Freund Ramesh, mit dem ich vor zwei Tagen noch gescherzt hatte, jetzt tot war. Ich rannte zu ihm nach Hause, sprach mit der Familie, trauerte mit ihr. Die Auseinandersetzung mit dem Tod wurde zu einer traurigen Gewohnheit. In der kurzen Zeit, die ich in Bombay lebte, hatte ich bereits häufig erleben müssen, wie Kinder starben.
Die Diplomatic School entwickelte sich immer besser, die Schülerzahlen stiegen. Eines Tages rief mich Vinay Somani von Karmayog wieder an, der mir einst als Erster von Kartika Home erzählt und den ich fast schon vergessen hatte.
Vinay erzählte mir, wie glücklich er sei, dass seine Entscheidung, mich mit dem Waisenhaus in Verbindung zu bringen, so tolle Ergebnisse hervorbrachte. Dabei erwähnte er auch, dass es eine weitere Schule gab, die in einer Krise steckte. Es handelte sich um die Yashodhan-Schule, die außerhalb Bombays in den Bergen von Shatri Nagar lag. Die riesigen Elendsviertel dort dehnten sich bis zu den Gipfeln des Gebirges aus.
Die Schule wurde von 500 Kindern im Alter von drei bis 18 Jahren besucht, die alle aus diesen Slums kamen. Ihre Eltern waren bitter arm, und wenn
nichts gegen die Schließung der Schule unternommen wurde, würden die Kinder auf der Straße landen, dann bliebe ihnen keine andere Wahl als zu betteln. Ich entschloss mich, die Zügel in die Hand zu nehmen, genau wie damals bei Kartika Home.
Die Situation war tatsächlich ähnlich und ich hatte einige Déjà-vu-Erlebnisse. Auf keinen Fall wollte ich zulassen, dass die Einrichtung geschlossen wurde. Ich hatte dafür zu sorgen, dass die Schulden beglichen wurden, die Lehrer ihre Gehälter erhielten und dass die 500 Kinder, die die Erwachsenen von Morgen waren, eine Zukunft hatten.
An dem Tag, an dem ich nach Yashodhan aufbrach, geschah etwas Magisches. Wenn es außerhalb der Regenzeit regnet, halten die Hindus das für ein gutes Omen: Der Himmel soll damit zu verstehen geben, dass gute Zeiten bevorstehen.
So wollte es wohl das Schicksal, dass es just in dem Moment, in dem ich auf dem kleinen Platz vor der Schulpforte ankam, zu regnen anfing. Und das mitten im Mai - der trockensten Periode des Jahres.
Die Leute, die bis dahin nur stumm entgegengeblickt hatten, fingen laut zu jubeln an. Die Mütter der Schüler fielen vor mir auf die Knie, berührten meine Füße, fassten sich ans Herz. Manche konnten die Tränen nicht zurückhalten. Es waren Freudentränen, denn die Zeichen deuteten darauf, dass ihre Kinder die Schule besuchen dürften.
Von den Dächern warfen Jungen und Mädchen orangefarbene Blütenblätter auf meinen Weg und vor jedem Haus gab es rangolis - wunderschöne Bilder aus Reisstaub, die zu besonderen Feierlichkeiten auf den Boden gemalt werden, um böse Geister zu vertreiben und gute anzulocken.
»Jetzt bist du ihr Gott«, sagte der Direktor der Schule zu mir.
Drei Dorfkapellen musizierten ausgelassen und Hunderte von Leuten drängten nach vorne, um meine Füße berühren zu können. Dieses Verhalten war mir unangenehm, weil ich diese Behandlung nicht verdient hatte. Ich wollte einfach nur helfen - das sollte doch die Aufgabe eines jeden Menschen sein.
In der Nacht danach schrieb ich einem Freund einen Brief, an den ich mich noch gut erinnere:
Man behandelt mich hier entweder wie einen Feind und bespuckt mich, oder aber wie einen Halbgott. Nichts davon ist mir angenehm. Was ist nur von dem Jungspund übrig geblieben, den ihr alle kennt? Vermutlich muss ich mich doch anpassen. Vermutlich habe ich keine andere Wahl.
Mit der Zeit
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