Bombay Smiles
unangenehm - meilenweit von der Diskretion und der Zurückhaltung entfernt, die ich aus meiner Kindheit kannte, und auch von dem Geist, in dem wir unsere Kinder erziehen wollten. Doch natürlich hatte Nadine Recht: Diese unangenehmen Leute konnten hilfreich sein.
Etwa 30 Leute nahmen am Festessen teil. An den Wänden aus poliertem Sandelholz hingen Ölgemälde mit Porträts von Maharadschas, die einst Stammgäste des Hotels und seines Restaurants gewesen waren.
Da ich keine angemessene Kleidung für diesen Anlass besaß, zog ich den bordeauxroten Punjabi Kurta an, den mir die Lehrer vor nunmehr einigen
Monaten geschenkt hatten. Der Gastgeber, ein indischer Multimillionär und Eigentümer einer Firmenkette, deren Namen ich lieber nicht nennen möchte, kam auf mich zu, während ein Diener den Gästen dabei behilflich war, ihren Tischplatz zu finden.
»Wer sind Sie denn? Arbeiten Sie bei einer Botschaft?«, fragte er mich.
»Ich heiße Jaume Sanllorente. Ich arbeite für die Armen in Bombay.«
Das überhebliche Lachen des Mannes schallte durch den gesamten Saal, einen abgeteilten Raum im besten Restaurant des Hotels.
»Na, dann verdienen Sie wahrscheinlich elend wenig!«, rief er aus und lachte weiter, während einige der Anwesenden ihm applaudierten.
Nadine sah mich beschämt an. Sie hatte mich nicht nur zu diesem Abendessen am anderen Ende der Stadt eingeladen, bei dem ich Leute traf, mit denen ich absolut nichts anfangen konnte, nein, sie lachten mich auch noch aus.
Das Essen selbst verlief trotzdem recht angenehm. Der Gastgeber nahm mir gegenüber Platz, ein relativ entspanntes Gespräch folgte. Es ging unter anderem um die Investitionen des Schweizer Amts für Tourismus in Indien, um die hypnotische Macht von Diktatoren und die Veränderungen in der Weltwirtschaft nach dem 11. September.
Ich muss zugeben, dass einige der besprochenen Themen wirklich interessant waren und durchaus
auch geistreiche Witze gemacht wurden, dennoch blieb ich während des gesamten Essens ernst. Selbst wenn ich etwas lustig fand, unterdrückte ich das Lachen mit aller Kraft. Nadine trat mir unter dem Tisch gegen das Bein. Sie verstand nicht, weshalb ich die ganze Zeit über an einer so übertrieben ernsten Miene festhielt.
Als das Essen beendet war und sich einige Gäste auf den Nachhauseweg machten, kam der Gastgeber noch einmal auf mich zu und fragte diesmal in weniger üblem Ton: »Verraten Sie mir, weshalb Sie den ganzen Abend so ernst waren? Hat Ihnen das Essen etwa nicht geschmeckt?«
»Das Essen war köstlich, vielen Dank«, sagte ich ohne große Begeisterung.
»Warum waren Sie dann so ernst?«
Nadine machte einen langen Hals vor Neugierde, der dickbäuchige Millionär baute sich vor mir auf und erwartete eine Antwort.
»Sie hatten ja vor dem Essen angemerkt«, antwortete ich, »dass mich meine Vorgesetzten wohl elend schlecht bezahlen. Da mich aber meine Vorgesetzten, also die Unberührbaren von Bombay, einzig mit ihrem Lächeln entlohnen, wie könnte ich da so unhöflich sein und Ihnen ein Lächeln des Elends zumuten.«
Diese Bemerkung, die mir aus tiefster Seele kam, führte dazu, dass sich einige der Gäste, die schon in der Tür standen, umdrehten.
Dabei blieb es aber nicht. Am nächsten Morgen schickte mir die Firma des Millionärs eine Mitteilung, die er persönlich unterschrieben hatte:
Nehmen Sie bitte meine Entschuldigung an und übergeben Sie das Ihren Vorgesetzten.
Der Mitteilung lag ein Scheck bei, mit dem ich für jedes Kind drei Garnituren Wechselkleidung kaufen konnte, sogar Regensachen für die Zeit des nächsten Monsuns.
In derselben Woche gingen Spenden von einigen Gästen ein, die meinen Kommentar gehört oder die von Bekannten von meinen Worten erfahren hatten. Eine Woche später veröffentlichte eine Redakteurin der Times of India einen Artikel mit der Überschrift »The Spanish Robin Hood«, in dem sie das Kartika Home-Projekt sehr lobte. Ein Artikel, der unserer Arbeit sehr zugute kam.
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Göttliche Vorsehung
Almosen sind keine Lösung für Armut: Sie führen
nur dazu, dass Armut fortbesteht, rauben den
Armen die Initiative. Almosen erlauben uns,
dass wir unser Leben genauso weiterleben wie
bisher, uns nicht um die Armen zu kümmern
brauchen. Ihr einziger Zweck besteht darin, unser
Gewissen ruhigzustellen.
MUHAMMAD YUNUS
Ausbildung ist meiner Ansicht nach der einzige Schlüssel, den die Armen und Unberührbaren in Indien haben, um dem Elend ihres vorgezeichneten Daseins zu
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