Bombay Smiles
sofort für die Übertragung bearbeiten müssen. Als die neuen Schüler aufgenommen wurden, war es allerdings, als würde man gleichzeitig für zehn Radiosender arbeiten - und dabei fiel auch noch dauernd der Strom aus.
Außerdem wuchs sich die Schule mit jedem weiteren Tag zu einer Art Babel aus. Viele Familien waren erst vor Kurzem aus dem Norden nach Bombay gezogen, ihre Kinder sprachen nur Urdu. Die Sekretariatsangestellten hingegen sprachen Englisch und Marathi. Ich selbst sprach außer Spanisch auch noch Englisch sowie Hindi. Es wurden also in einem Raum viele verschiedene Sprachen gesprochen - doch kein Schüler verstand den anderen.
Viele Mütter kleideten sich in schwarze Burkas, hinter denen man kaum ihre Augen ausmachen konnte. Sie sahen mich nie direkt an, wenn sie mit mir sprachen. Auch ich lernte, mich an sie zu wenden, ohne ihnen direkt ins Gesicht zu sehen - ansonsten hätten sie sich in ihrer Ehre verletzt fühlen können.
Damals fiel mir auf, dass das Schulpersonal muslimische Mütter abschätzig musterte, was mir sehr missfiel. Im Vorbeigehen schnappte ich ein paar geringschätzige Kommentare auf, wollte aber noch abwarten, wie sich die Situation entwickeln würde.
Trotz der vielen Hindernisse dieser ersten Wochen hatten wir Grund zur Freude, weil sich die Schule
gut entwickelte. Die Familien gewannen Zutrauen, und es gelang uns, mit unterschiedlichen Methoden das Fernbleiben der Schüler vom Unterricht einzuschränken, denn die Zahl schwänzender Schüler war in den ersten Monaten erschreckend hoch. Wir beauftragten einzelne Mitarbeiter damit, beim mehrtägigen unentschuldigten Fehlen eines Schülers dessen Familie aufzusuchen. Ganz oft war der Bau eines Hauses in der Nachbarschaft der Grund für die Abwesenheit, da alle Kinder, die älter als drei Jahre waren, von den Vätern angehalten wurden, bei Bauarbeiten zu helfen.
Jederzeit mussten wir achtsam bleiben. Wenn eine Familie in Indien ihr Kind in die Schule schickt, bedeutet das den Verzicht auf eine Einnahmequelle. Und das ist selbstverständlich nicht in allen Fällen unumstritten.
In den ersten Monaten lernte ich die Namen der neuen Schüler auswendig. Jeden Morgen kamen sie in ihren Uniformen in die Schule, bereit, neuen Unterrichtsstoff durchzunehmen, wobei sie die Lehrer erschrocken ansahen.
Wir erhöhten die Zahl der Lehrkräfte, die wir anständig bezahlen mussten. Andernfalls würden sie nämlich an andere Bombayer Schulen wechseln, die zentraler lagen oder an denen man besser verdienen konnte. Wir strebten eine erstklassige Ausbildung für die Kinder an, deshalb mussten unsere Lehrer entsprechend qualifiziert sein.
Sujit wurde unser Schulleiter. Ich kannte ihn seit meinem ersten Besuch im Kartika Home, wo er damals arbeitete. Als meine Sekretärin stellten wir seine Frau Sharmila ein. Kartika Home erhielt bald auch einen Leiter, so konnten Schule und Waisenhaus unabhängig voneinander arbeiten.
Ich verstand mich blendend mit den neuen Schülern. Bereits ganz zu Anfang lernte ich Ramesh kennen, der mit seinen sieben Jahren so groß war wie andere mit zwölf. Ein so kräftiges Kind war in der Schule ziemlich ungewöhnlich, die meisten waren eher zierlich. Ich konnte Ramesh sehr gut leiden und anscheinend fand er mich auch sympathisch. Jeden Morgen kam er vor dem Unterricht in der Kantine vorbei, die wir im Eingangsbereich eingerichtet hatten, und verspeiste ein vada pav , ein indische Hamburger.
Rameshs Familie lebte in einer Baracke zehn Minuten von der Schule entfernt. Er und seine zwei Brüder waren immer tadellos angezogen, ihre Uniformen, die mit Geldern der immer größeren Anzahl spanischer Organisationsmitglieder bezahlt worden waren, in einwandfreiem Zustand. Ramesh war, wie viele der anderen Schüler, die jeden Tag hierher kamen: fröhlich, sympathisch, ausgelassen und - weshalb sollte man das nicht erwähnen - ziemlich ungezogen.
Eines Tages kam er laut weinend in die Schule. Wir konnten ihn nicht beruhigen und auch nicht
herausfinden, was passiert war. Als wir uns auf den Weg zu ihm nach Hause machen wollten, um dort den Grund für seine Traurigkeit in Erfahrung zu bringen, hörte Ramesh plötzlich zu weinen auf und stieß unter Schluchzern hervor: »Ich habe einen Strumpf verloren …«
Wir blickten auf seine Füße und bemerkten, dass er an einem Fuß einen weißen Strumpf trug und am anderen, tja, da trug er keinen. Die anwesenden Lehrer brachen, genau wie ich, in schallendes Gelächter aus, wir konnten uns
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