Bombenbrut
Kaiserwetter wie in diesen Tagen und dazu noch lautstarkem Vogelgezwitscher ab 6 Uhr morgens vor seinem Fenster – da wacht selbst er ungewohnt früh auf. Die Weinflasche liegt leer neben seinem Bett, der Telefonhörer neben der Gabel auf dem Boden, er erinnert sich an das Gespräch mit Lena, aber mit seinen Gedanken ist er schon wieder bei Schwanke, dem US-Raketenschirm und den Nachrichten des Vortags.
Er ist schnell munter, steht auf, blickt aus dem Fenster, sieht die Amseln über sein kurz geschorenes Grün springen, ein Rotschwänzchen trillert lautstark. Eberhardt pirscht sich wie eine geübte Raubkatze an die Vögel heran. Leon öffnet das Fenster, der Kater beäugt ihn feindselig, aber Leon lässt der Natur ihren Lauf. Er brüht sich einen Kaffee auf, nimmt einen großen Schluck, zieht nebenbei die Badehose an und verlässt, mit einem Handtuch über den Schultern, leise das Haus.
Durch den Stadtgarten ist es nicht weit zum See. Noch ist kein Tourist zu sehen und auch die Überlinger scheinen nach wie vor zu schlafen. Nur ein Pulk Straßenkehrer sammelt die Spuren des gestrigen Badetages vom Grün am Ufer ein: Leere Zigarettenschachteln, ein paar Bierdosen, Pizza-Pappkartons und McDonald’s-Tüten spießen sie mit ihren Speeren auf. Ein anderer hantiert laut mit einem Laubbläser über die Gehwege des Parks.
Leon grüßt die Straßenfeger, geht direkt zum Ufer des Sees und legt sein Handtuch ab. Es ist noch frisch am Morgen, der Tau nässt seine nackten Füße, das Wasser hat über Nacht etwas abgekühlt. Er taucht zunächst unter den Algen, die sich in Ufernähe angesammelt haben, durch und schwimmt in langen Zügen auf den See hinaus. Das Wasser liegt ruhig in seinem großen Becken des Überlinger Arms.
Die ›Seeperle‹ von Ewald Gieß kreuzt schon den See und bringt die ersten Pendler von Überlingen nach Wallhausen. Von dort fahren sie mit dem Bus oder Rad nach Konstanz zu ihren Arbeitsplätzen. Ewald Gieß wird nur kurz anlegen und dann wieder zurückfahren. Zwölfmal, jeden Tag.
Leon dreht sich im Wasser, schaut zurück zum Ufer, sieht den dominanten Münsterturm in der Morgensonne glänzen, die mächtigen Patrizierhäuser um die Kirche geschart, die große Greth, einst Lagerhaus für die Handelsschiffe des Sees, und hinter der romantischen Kleinstadt die Linzgauberge. Und irgendwo dort oben, denkt er, liegen Taisersdorf und Lena.
Verdammt, warum ist sie jetzt nicht bei ihm? Sie hatten sich vor zwei Jahren, als er wegen gekaufter Dr.-Titel am See recherchierte, Hals über Kopf ineinander verknallt. Danach jagte er jede freie Minute über den Spätzle-Highway von Stuttgart zu ihr, bis er kurz entschlossen beim Landessender einfach kündigte und an den See zog. Gern hätte er sie jetzt an seiner Seite, um die Idylle und Ruhe zu genießen, aber gleichzeitig weiß er, sie würde ihn um diese Zeit nur müde anlächeln, sich in ihrem Bett umdrehen und weiter schlummern. Ein bisschen beneidet er sie um ihren tiefen Schlaf. Verdammt, leidet er schon an der senilen Bettflucht?
Leon taucht unter, schwimmt mit gemächlichen Zügen zum Ufer zurück und nimmt sich fest vor, das ganze Wochenende nur mit Lena zu verbringen. Er wird sie schon am Freitagabend besuchen, sie zu dem ›Kopfsalat‹ der Gruler-Brüder ausführen, am Samstag ihren Rasen mähen und was sonst noch um das alte Bauernhaus herum zu erledigen ist. Und vor allem will er endlich mal wieder das mit Lena machen, was wohl der alte Dornier, trotz vieler Erfindungen, am liebsten getan hat – zumindest Helmas Schilderungen zufolge.
Aber jetzt muss er sich beeilen. Schnell steigt er aus dem See, sprintet durch den Stadtgarten die über 100 Stufen der Teufelstreppe in seine Wohnung hoch und duscht. Dann macht er sich sein Frühstück und überfliegt nebenbei die Zeitungen. Sie berichten über neue Hintergründe zum Bombenangriff auf den Tanklastzug in Afghanistan, die taz spricht von Krieg und Kriegsminister. Doch der große Aufmacher sind die gestrigen Äußerungen des US-Präsidenten, zusätzlich die Reaktionen aus Russland und vor allem aus Polen.
Der US-Präsident erklärt, er will den Raketenschutzschirm im Osten über Polen bis zur Grenze Russlands spannen. Dafür haben die Amis Polen zusätzlich Luftabwehrraketen vom Typ Patriot versprochen, die das polnische Militär an der Grenze zur russischen Exklave Kaliningrad stationieren will. Der russische Präsident wiederum erklärt als Reaktion, dass sein Land neue Kriegsschiffe vom Typ
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