Bombenbrut
Militär.
Eine Krux, in der Stengele mit seinem Kindertraum gelandet ist, genauso wie Wernher von Braun vor ihm. Auch er hatte seine Begeisterung für die Astronomie von seinen Eltern geerbt. Von seiner Mutter hatte er zur Konfirmation ein Fernrohr geschenkt bekommen, seine Neugierde für die Tiefen des Alls war geboren.
Nicht anders war es seinem sowjetischen Konkurrenten Sergei Pawlowitsch Koroljow ergangen. Er saß schon als Jugendlicher in einem Segelflieger und bastelte 1929 mit Tupolew sein erstes Motorflugzeug.
Nach der phänomenalen Weltumkreisung des ersten Sputniks und der Aufregung in Amerika legten die Russen weiter nach und bauten im unerforschten, kalten Norden ihres Landes eine geheime Raketenabschussstation. Von ihr aus sollte mit den neu entwickelten Interkontinentalraketen amerikanisches Territorium erreicht werden. Selbst Killersatelliten wurden entwickelt. Der Kalte Krieg schürte hemmungslos den Rüstungswettlauf und verlegte die vorderste Front ins All.
Herbert Stengele fährt seinen Computer herunter, er fröstelt. Sein Schlafanzug ist noch durchschwitzt, ein frischer Nachtwind zieht durch seine kleine Wohnung. Er sieht sein Modell des Zentralachsenspiegels, sieht vor sich die Hinweise, die er von dem neuen, riesigen US-Teleskop auf Mauna Kea im Internet gefunden hat, und ist sich sicher, dass die Amerikaner seine Berechnungen geklaut haben. Ist das das Ende seines Jugendtraums? Statt ungeahnte Galaxien zu erkunden oder unbekannte Planeten zu erforschen, hat er eine neue Weltraumwaffe entwickelt.
Zorn steigt in ihm auf. Er fühlt sich hilflos und ausgeliefert. Er nimmt seine SIG Sauer Pistole aus der Schreibtischschublade, der kalte Griff in seiner Hand fühlt sich gut an, und lädt durch. Das metallische Geräusch gibt ihm Selbstvertrauen. Am liebsten würde er jetzt abdrücken. Am besten bis nach Washington.
Auch Herbert Stengele hatte am Abend in den Nachrichten den US-Präsidenten gehört, wie er stolz von einem neuen Waffensystem des 21. Jahrhunderts schwadronierte. Angriffslustig verkündete er, der sonst gern auf politischen Veranstaltungen seine Friedensbotschaften und seine persönlichen Abrüstungsbemühungen für ›unsere Welt‹ verkündet, die neue Militäroption im All. Der Krieg heute findet über den Köpfen der Erdbewohner statt, 50 Jahre nach dem ersten Sputnik ist dies auch Herbert Stengele klar geworden.
Stengele graust vor seinesgleichen und sich selbst. Er schaut auf die Pistole und denkt an Nobel, Wernher von Braun, Dornier und auch an Gunther Schwanke. Ihm kann er nicht mehr trauen. Sollten die Amerikaner ihm tatsächlich seine Technik geklaut haben, würde Schwanke noch leichter potenzielle Kunden auf anderen Erdteilen finden. Jetzt erst recht, nach dieser unverhüllten Drohung des US-Präsidenten.
Stengele nimmt die Pistole, hält sie an seine Schläfe. Er hat verloren, ohne Matthias weiß er nicht mehr weiter. Nur er hätte, wie immer, einen Weg aus diesem Dilemma gekannt.
Stengele sieht in der geöffneten Schreibtischschublade das Bild von Verena. Sie lacht ihn an. Er legt die Pistole aus der Hand und greift zur Fotografie. Er hatte sie an Matthias verloren, aber auch nach seinem Tod sieht er kaum eine Chance, sie zurückzugewinnen. Er hatte sie mit Joseph gesehen, einem jungen Schnösel. Das hatte ihn geschmerzt. Er war schnell weitergegangen, als hätte er sie nicht erkannt. Ein dicker Kloß war ihm im Hals stecken geblieben.
Dagegen Markus, ihm ist er seit dem Tod von Matthias nähergekommen. Sie haben sich schon immer gut verstanden, und seit Matthias’ Beerdigung ist zwischen ihnen ein noch engeres Band entstanden. Erst gestern ist Markus bei ihm gewesen. Er wollte alles über sein mysteriöses Abenteuer in Moskau erfahren. Matthias’ Sohn hatte zwei Flaschen ›Pinot Noir‹ dabei. Sie hatten beide ausgetrunken und Markus hatte ihn, als er ging, sogar in den Arm genommen. Er hatte ihm Mut zugesprochen und zeigte sich enorm an den diffizilsten Berechnungen zu seiner Erfindung interessiert.
Herbert Stengele lächelt, greift zu einer Packung Zigaretten, quetscht eine aus der Öffnung, zündet sie an, öffnet das Fenster und bläst den Rauch in die Nacht hinaus.
Vor seinem Fenster steht ein Mann im Dunkeln und raucht ebenfalls. Doch als Stengele das Fenster öffnet, wirft dieser die Zigarette auf den Boden, tritt sie aus und verschwindet in der Finsternis hinter einem Baum.
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Leon ist eigentlich ein Langschläfer. Doch im Sommer, bei solch einem
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