Bombenspiel
Fenster seines Hotelzimmers und starrte in den Regen hinaus. Das Geräusch der gegen die Scheiben prasselnden Tropfen hatte für ihn etwas Beruhigendes, nur die grauen Wolken, die tief zwischen den Bergen hingen und selbst das fürstliche Schloss hinter einer Nebelwand versteckten, schlugen ihm aufs Gemüt. Vier Europa- und vier Weltmeisterschaften hatte er hinter sich, in zwei Jahren würde er sich von den Jungs verabschieden.
Es war an der Zeit. Immerhin war er im Sommer 65 geworden, auch wenn man ihm sein Alter trotz leicht ergrauter Schläfen nicht ansah. Er fühlte sich gesund, bis auf die Hüften, okay, und die immer wieder auftauchende Enge im Brustkorb, die er aber auf Stress zurückführte und die sicher nichts zu bedeuten hatte. Er trieb regelmäßig Sport, hielt sich fit, hatte kein Gramm Fett zu viel, sein Körper war muskulös, die Haut leicht gebräunt und bis auf wenige Stellen fast faltenfrei. Er war ein Mann in den besten Jahren, auch in den Augen vieler Frauen, die in seine Privatklinik kamen.
Wie Brinkmann im Schwarzwald, dachte er. Ein Gott in Weiß. Er war eine Koryphäe in der Sportmedizin. Hatte lange dafür gearbeitet. Zwei Jahre noch, dann war Schluss. Vielleicht noch in der Klinik, drei Tage in der Woche, bis 70? Aber nicht mehr als Mannschaftsarzt für den DFB. Die Flüge, die Reisen im Bus, die einsamen Nächte im Hotel, die stressigen Stunden am Spielfeldrand, die inszenierten Verletzungen, der Druck des Trainerstabs und die Diskussionen um die Spielfähigkeit, die Prombleme der Stars.
Seine Kollegen Johann Schmied und Tom Müller hatten ihn in dieser Zeit begleitet und konnten sich auch ohne ihn um die deutsche Elf kümmern. Und junge Sportmediziner, Ärzte in den deutschen Clubs, standen Schlange, um seine Nachfolge anzutreten. Dr. Fred Goldbäck befand sich dabei in der Poolposition. Nein, eineinhalb Jahre noch, dann Südafrika und tschüss.
Er sah auf die Uhr. Der Countdown zum Anpfiff lief. Der Dauerregen über Vaduz ließ nicht nach. Doc Fox, wie der Mannschaftsarzt Dr. Karl-Heinrich Maier-Fuchsberger im DFB-Team genannt wurde, hatte sich Ballacks Sehnenentzündung im linken Mittelfuß noch einmal angesehen und den Kopf geschüttelt. Bundestrainer Joachim Löw würde auf seinen Kapitän verzichten müssen. Auch Torsten Frings würde ausfallen, nachdem er sich während eines PR-Termins beim Basketballspielen mit Teamkollegen die Nase gebrochen hatte. Löw war wenig begeistert gewesen, denn obwohl mit der heutigen Partie eine lösbare Aufgabe anstand, galt es gleich beim ersten WM-Qualifikationsspiel, der Favoritenrolle in Gruppe 4 gerecht zu werden.
Das Rheinparkstadion an der Grenze zur Schweiz war ausverkauft. Der Gegner: Liechtenstein. Ein Fußballzwerg, hatten die Fans gelästert. Doc Fox schüttelte den Kopf über eine solche Überheblichkeit. Er hatte gelernt, den Gegner nie zu unterschätzen. Die Niederlage im EM-Endspiel gegen Spanien saß noch tief, war erst knapp 70 Tage her. Und die Ansage des Trainers war deutlich: klarer Sieg zu Null gegen Liechtenstein, also kein Tor für den Gegner!
Sie mussten bis zur 21. Minute warten, ehe Lukas Podolski nach einem hervorragenden Zusammenspiel mit Piotr Trochowski den Bann brach. Dabei blieb es allerdings, denn das war schlichtweg alles bis zur Halbzeitpause. 1:0 für Goliath gegen David, lächerlich. Doc Fox half, die Gemüter zu beruhigen.
Anpfiff zur zweiten Halbzeit. Diesmal ging alles schnell: Trochowski leitete den Angriff ein und Podolski ließ Peter Jehle im Tor der Liechtensteiner keine Chance. Es folgte der erste Länderspieltreffer von Simon Rolfes. Schweini legte eine Minute später nach und dann sorgten Thomas Hitzlsperger und Heiko Westermann im regelmäßigen Abstand von jeweils zehn Minuten schließlich für den standesgemäßen Endstand von 6:0.
Ziel erreicht.
Doch während Doc Fox am Spielfeldrand seinen kleinen Koffer zusammenpackte und sich wieder diese Enge wie ein zu straff gezogener Gürtel um seine Brust schnürte, dachte er schon an den nächsten Gegner, der es den Jungs nicht so leicht machen würde.
Noch hatten sie die Flugtickets für Südafrika nicht in der Tasche.
Mittwoch, 10. September 2008, Helsinki - Noch 638 Tage
Der kleine Mann fiel trotz seiner dunklen Haut kaum zwischen den 40.000 Fußballfans im Olympiastadion von Helsinki auf. Schwarzer Bartflaum kaschierte die Brandnarben in seinem Gesicht und über seinen kahlen, ohrenlosen Schädel hatte er seine Wollmütze gestülpt.
Es
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