Bombenspiel
war das erste Mal, dass der Afrikaner in einem Stadion war, und es war überhaupt das erste Mal, dass er ein Fußballspiel erlebte. Bevor er den Weg in die Arena gefunden hatte, war sein Blick am Wahrzeichen des Stadions hängen geblieben, einem Turm, dessen Höhe mit 72,71 Meter genau der Siegweite eines finnischen Speerwurf-Olympiasiegers entsprach. Merkwürdig, weshalb Menschen so viel Mühe drauf verwandten, sich für solche Nebensächlichkeiten derartige Denkmäler zu setzen.
Der Bogen, der das Stadion seiner Heimatstadt überspannen sollte, würde diesen Turm noch um 30 Meter überragen, und er war nicht als Denkmal für eine sportliche Leistung konzipiert, sondern als Symbol für die Einheit seines Landes, wie sie sich in der Nationalflagge widerspiegelte: das liegende grüne Ypsilon, das eingerahmt wird von den Farben Rot, Blau, Weiß, Schwarz und Gelb. Rot für das Blut, blau für die beiden Ozeane, Gelb für die Bodenschätze und Schwarz und Weiß für die beiden Bevölkerungsmehrheiten. Er hatte seinen einzigen freien Tag in Camp Zero genutzt, um nach Helsinki zu fliegen und die Deutschen siegen zu sehen.
Die Teilnahme Deutschlands an der Fußballweltmeisterschaft in seinem Land war Teil ihres Plans. Er war nur ein Rädchen im Uhrwerk von ›Sub Africa‹, aber er war wichtig. Und die Deutschen waren es ebenfalls, ohne es zu wissen. Darum war er gekommen. Um die Mannschaft siegen zu sehen, aus deren Spielfeld ›Sub Africa‹ ein Schlachtfeld machen würde. Wenn sie die Qualifikation schafften. Finnland, das hatte er sich sagen lassen, war ein schwieriger Gegner.
Er liebte schwierige Gegner und hatte kein Problem mit ihnen. Er hatte sie alle besiegt. Mit jedem Mittel, das sich bot. Das erwartete er auch heute von den Deutschen, während er in Helsinki saß und bei acht Grad Celsius trotz seines pelzbesetzten Ledermantels fror.
Er hatte die Aussagen der Spieler und Kommentare in den Zeitungen gelesen und es war ihm egal, dass ein Spieler namens Philipp Lahm an diesem Abend sein 50. Spiel in dieser Nationalmannschaft absolvierte.
Der Afrikaner hatte seine Aufträge nie gezählt und führte auch keine Statistik über seine Erfolge. Er verstand nicht, wie man im Vorfeld von Wichtigkeit und Schwierigkeit einer Partie sprechen konnte: Für ihn zählte allein der Erfolg, und der hieß eindeutig Sieg. Als er davon hörte, dass der deutsche Trainer von seiner Mannschaft Konzentration und Tunnelblick gefordert hatte, schüttelte er den Kopf. Wie sonst hätte er je seine brisanten und – das musste er zugeben – gut bezahlten Aufträge erledigen können, wenn nicht durch Konzentration und den Blick auf das Ziel?
Er hasste Statistiken. Wobei seine eigene eindeutig aussah: alle Aufträge kompromisslos erfüllt, kein Ausfall, kein Verlust, keine Niederlage. Doch er würde sich nie damit brüsten. Seit 85 Jahren war die DFB-Elf gegen Finnland unbesiegt geblieben, hatte er gelesen. Was sollte das? Spielten denn immer noch dieselben Leute in den Teams? Insgesamt waren 15 Siege, vier Unentschieden und eine weit zurückliegende Niederlage zu verzeichnen gewesen. Eine Niederlage zu viel, dachte er.
Er hatte von Streitigkeiten gelesen und erneut den Kopf geschüttelt. Unprofessionell, dachte er. Ein Dauerzoff zwischen Manager und Kapitän würde bei ihm nicht zu einer Belastungsprobe auf dem Weg zu einer Weltmeisterschaft werden. Und wenn der Mann, den sie in Deutschland ›Kaiser‹ nannten – der einzige Fußballer, der ihm etwas sagte – nun einen Friedensgipfel einforderte, war das für den kleinen Beobachter aus Afrika der falsche Weg. Sollten die Kontrahenten doch für zwei Tage zu ihm ins Camp Zero kommen, er würde das Problem lösen, da war er sich sicher. Auf seine Weise. Todsicher.
Der Anpfiff lenkte ihn von seinen Gedanken ab.
Er verstand nicht viel von Fußball. Als das erste Tor für Finnland fiel, schrie er auf. Beim 2:2 in der Spielpause blieb er auf seinem Platz sitzen und wartete auf die zweite Halbzeit. Als die Deutschen in der 53. Minute ein Kopfballtor einfingen, stand er auf und verließ enttäuscht das Stadion.
›Sub Africa‹ würde sich nach einer Alternative umsehen müssen.
Dienstag, 7. Oktober 2008, Durban - Noch 611 Tage
Henning Fries war einer der Ersten auf der Baustelle. Er hatte in der vergangenen Nacht eine Kontrolle im Skywalk vorgenommen und bei den Bodenblechen tatsächlich Änderungen festgestellt, die er dort so nie vorgesehen hatte, da war er sich sicher. Ein
Weitere Kostenlose Bücher