Bombenstimmung: Tannenbergs sechster Fall
Tannenberg. Er wartete geduldig, bis sein Kollege das Telefonat beendet hatte. Dann sagte er kopfschüttelnd: »Junge, Junge, das war vielleicht eine Horrornummer.«
»Du hast zwar ausgesprochen selten recht, mein lieber Karl, aber diesmal hast du mit deiner Einschätzung ausnahmsweise mal genau ins Schwarze getroffen.«
»Finde ich auch. Aber das eigentlich Sensationelle bei dieser Horrornummer war ja wohl die Tatsache, dass dieser mundfaule Kerl hier neben mir«, sagte Dr. Schönthaler und stieß den Leiter des K 1 grinsend in die Seite, »zu solch einem perfekten Vortrag vor einer derart großen Menschenmenge fähig war. Hätte das irgendjemand von euch vorher für möglich gehalten?«
»Nee, nie und nimmer«, lachte der Kriminaltechniker.
»Ich ehrlich gesagt auch nicht«, seufzte Tannenberg, dem gerade ein kalter Schauer den Rücken hinunterlief, als er daran dachte, wie er vorhin auf der Bühne im grellen Scheinwerferlicht gestanden hatte.
Der Rechtsmediziner hängte ihm seinen Arm über die Schultern. »Weißt du was, Wolf, wenn ich jetzt kein Mann wäre … Ich glaube, ich würde dich küssen.«
Tannenberg schürzte die Lippen, nahm entsetzt den Kopf zurück.
»Keine Angst, mach ich aber doch nicht, mein liebes Wölfchen. Nicht wegen dir – sondern wegen mir.« Er zeigte hinüber zu den vielen Rundbogenfenstern der Fruchthalle. »Stell dir mal vor, einer dieser voyeuristischen Kameraleute würde diese Szene einfangen. Knackiger Rechtsmediziner küsst alten, runzeligen Hauptkommissar – Pfui Teufel!«
»Aber ich darf das doch, oder?«, fragte Sabrina Schauß. Sie stand seitlich versetzt hinter Tannenberg. Nun zog sie ihn an der Schulter ein wenig zu sich herunter und drückte ihm einen zärtlichen Schmatzer auf die Wange.
»Und plötzlich sieht alles ganz anders aus, meine Damen und Herren«, übte sich Dr. Schönthaler in der Rolle eines Fernsehreporters. »Ein offensichtlich bei der Damenwelt sehr begehrter Hauptkommissar wird von einer jungen, bildhübschen Maid geküsst. Als Dank für seine heldenhafte, mutige Tat. – Alternder Rechtsmediziner wohnt traurig und neidgequält dieser anrührenden Szene bei.« Er schniefte theatralisch auf.
»Och, herrje, das kann man ja wirklich nicht mit- anschauen. Das zerreißt einem ja förmlich das Herz«, stimmte Sabrina in das Heldenepos mit ein. Nun bekam auch der frustrierte Gerichtsmediziner einen Kuss ab.
Als das schallende Gelächter seiner Kollegen verklungen war, kehrte andächtige Stille auf dem Parkhausdach ein. Tannenberg hing seinen abschweifenden Gedanken nach. In tiefen Zügen sog er die nasskalte Novemberluft ein. Anschließend schickte er seinen körperwarmen Atem stoßartig nach draußen. Sein verklärter Blick durchdrang die dünnen Dunstschleier vor seinem Mund. Eine Weile ruhte er auf dem aus dieser Frontalperspektive ein wenig klotzig wirkenden Prachtbau direkt vor ihm.
Wie oft hat mich Lea wohl in die Fruchthalle mitgeschleppt?, dachte er. Es waren unzählige Male: Fasching, Medizinerball, Uniball – und was weiß ich noch alles. Sie war so eine begeisterte und begnadete Tänzerin. Sie schwebte geradezu über das Parkett. Manchmal hatte ich das Gefühl, eine Feder in meinen Armen zu halten. Ach, Gott, Lea, du fehlst mir ja so sehr. Wenn du nur wieder bei mir sein könntest.
Ein kurzer Seitenblick auf seinen besten Freund genügte Dr. Schönthaler, um aus dessen Körperhaltung und Gesichtsausdruck treffsicher Tannenbergs momentane psychische Befindlichkeit abzuleiten.
»Du kannst wirklich stolz auf dich sein, mein alter Junge!«, versuchte er ihn auf andere Gedanken zu bringen. »Das, was du dort drüben gerade geleistet hast, hätten nicht viele hingekriegt.« Er gab ihm einen sanften Schupps.
Tannenberg hatte anscheinend nicht richtig zugehört. Er brummte irritiert auf.
»Hast nichts versäumt. Ich habe dich nur gerade gelobt. Sollte man bei dir sowieso tunlichst vermeiden. Wahrscheinlich ist dein ungewöhnlich leidenschaftliches Engagement in dieser Angelegenheit vor allem darauf zurückzuführen, dass dein gesamter Familienclan in der Fruchthalle versammelt war.«
»Nicht nur vielleicht«, seufzte der Leiter des K1.
»Wisst ihr was? Ich hab eine Idee«, stieß der Rechtsmediziner freudig aus: »Was haltet ihr davon, wenn wir noch irgendwo hingehen und ein bisschen feiern?«
»Ich weiß nicht. Eigentlich gibt es keinen Grund zu feiern«, wandte Tannenberg mit bekümmerter Miene ein. Er drehte sich um hundertachtzig Grad
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