Bone 01 - Die Kuppel
beiden gemeinsam zum Mittelplatz, wo Feuer brannten und gesungen wurde.
Natürlich, die Hochzeit. Das hatte er ganz vergessen. Der Gesang erstarb, als er näher kam. Die meisten Versammelten kannten Stolperzunge, und nun breitete sich ein aufgeregtes Flüstern aus. Doch niemand sprach ihn an, bis seine Mutter zwischen den anderen hervorstürmte und auf ihn zurannte.
»Mein lieber Stolperzunge!«, rief sie. »Ach, mein Stolperzunge!«
Er ließ die Beute fallen und schlang die Arme um ihren mageren Körper, drückte das Gesicht in ihr Haar, wie er es als Kind getan hatte, und spürte warme Tränen an seinem Hals.
»Wandbrecher hat gesagt, sie hätten dich getötet«, teilte sie ihm mit. »Er selbst hat drei von ihnen erwischt. Er sagt, er hätte sie mit Steinen zerschmettert, aber dann hätten die anderen dich in einem Haus in die Enge getrieben, und er konnte dir nicht mehr helfen.«
Nun wagten Onkel, Tanten, Vettern und Kusinen, sich ihm zu nähern. Er versuchte sie anzulächeln, aber dann fiel sein Blick auf Wandbrecher, der aus der Menge hervortrat. Stolperzunge löste sich von seiner Mutter. In seinem ganzen Leben hatte er sich noch nie so verraten gefühlt.
»D-d-du …«, sagte er. Seine Zunge gehorchte seinem Willen nicht, und Wandbrecher hatte alle Zeit der Welt, zu ihm zu treten und ihn zu umarmen, wie es ihre Mutter getan hatte. Er sprach flüsternd in Stolperzunges Ohr. »Später«, sagte er. »Bitte, Bruder. Ich habe ihnen erzählt, was ich erzählen musste.«
Dann wandte sich Wandbrecher der Menge zu. Sein blondes Haar war gewaschen, und für die Hochzeit waren geschnitzte Knochen hineingeflochten worden. »Mein Bruder hat überlebt! Er lebt!«
Die Feier schien bis zu diesem Moment ruhig verlaufen zu sein, aber nun brach überall lauter Jubel aus. Wandbrecher zeigte den Leuten seine guten Zähne und die Grübchen in den Wangen. »Heute Abend werde ich heiraten!« Er hob einen Finger, um einen erneuten Jubelausbruch zu unterbinden. Er war schon immer gut darin gewesen, die Herzen zu erobern. Viele glaubten, dass er eines Tages Häuptling sein würde. Aber Stolperzunge sah, dass er stärker als gewöhnlich schwitzte. Er bemerkte ein leichtes Zittern seiner Arme, das er noch nie an ihm gesehen hatte. Wandbrecher redete weiter. »Morgen werdet ihr mich oder meine Braut nicht zu Gesicht bekommen« – Gelächter – »und auch nicht am Tag danach und am Tag nach dem nächsten Tag! Aber vom vierten Tag an werde ich die wenige Kraft, die mir dann noch geblieben ist« – wieder Gelächter – »der Suche nach einem Brautpreis für meinen lieben Stolperzunge widmen!«
Diesmal war der Jubel ohrenbetäubend, und nun stürmten alle vor, um Stolperzunge zu umarmen und ihn zu küssen. Selbst Häuptling Speerauge kam zu ihm und legte die tätowierten Arme um den jungen Jäger. »Ich bin erfreut, dass du es geschafft hast«, sagte er. »Wir können es uns nicht leisten, Männer wie dich zu verlieren! Und nun wirst du aus Liebe zu unseren Vorfahren tun, was dein Bruder sagt, und dir eine Frau suchen, die für dich die Tage zählt!«
Seine Mutter führte ihn zu einem Feuer, wo er sich setzen sollte. Sie brachte ihm warme Brühe in einer Schüssel aus einem Zartlingschädel.
»Dein Lieblingsessen«, sagte sie.
Der Duft machte ihn schwindlig, und ihm lief das Wasser im Mund zusammen. Er fand kaum noch die Kraft, die Schale hoch genug zu heben, um daraus trinken zu können, doch der erste Schluck war köstlich, und dann tauchte er ganz darin ein. Als sein Bauch anschließend voll und warm war, kam seine Mutter wieder zu ihm und legte seinen Kopf in ihren Schoß. Die ganze Welt um ihn herum schien dunkel zu werden.
Stunden später weckten ihn Trommeln. Vereinzelte Tropfen Dachschweiß platschten auf den Boden oder fielen zischend ins Feuer. Niemand bemerkte es, weil es jede Nacht geschah, wenn die Luft kühler wurde. Er spürte, wie ein kalter Tropfen über sein Gesicht lief. Wahrscheinlich war er davon aufgewacht. Er hatte den größten Teil der Hochzeitsfeier verschlafen.
Köstliche Düfte erfüllten die Luft. Männer aus benachbarten Straßen tanzten und sprangen über die Kochfeuer. Eigentlich hätte er sich zu ihnen gesellen sollen. Neben ihm rieb sich Onkel Zartnase abwechselnd die Gelenke und leckte Stolperzunges leere Schale aus. Für Zartnase waren die Tage des Tanzes vorbei, und die Markierungen auf seinem Kerbholz – eine für jeden Sonnenaufgang seit seinem Namenstag – ließen sich gar nicht mehr
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