Bonita Avenue (German Edition)
die Stange des Staubsaugers fallen und sah ihn an. «Aaron, versuch doch mal, dich in mich reinzuversetzen. Nur ein einziges Mal. Ich habe damals einen Meineid geschworen. Gegen meinen Willen. Unter großem Druck habe ich einen Menschen, den ich nett fand, verraten. Vor Gericht. In seinem Beisein. Ich habe einen Meineid geschworen, in seiner Gegenwart. Er hörte, was ich sagte, und wusste, dass es gelogen war.»
«Und dann?»
«Und dann?», sagte sie verärgert. «Und dann? Was denkst du? Er bekam zehn Monate. Wegen meiner Lüge. Wegen Siems Manipulation. Das passierte dann.»
Er nickte. «Hat Wilbert dich angerufen?»
Sie wollte etwas erwidern, wieder etwas Wütendes, doch im selben Moment klingelte ihr Handy. Während sie es aus der Rocktasche kramte, beruhigte sie sich und sagte: «Ich habe ihn selber angerufen. Wir haben uns verabredet.»
Sie ging ran. Nachdem sie ihren Namen genannt hatte, lauschte sie gespannt, streckte ihm wie ein Verkehrspolizist eine Hand entgegen und verschwand in der Küche. Mit einem Knall zog sie die Küchentür hinter sich zu. Mit wem sprach sie? Hastig lief er hinter ihr her und sah durchs Fenster, dass sie bis hinten in den verwüsteten Garten weiterging. Sie redete unhörbar. Mit diesem Kriminellen?
Auf der Straße herrschte eine seltsame Stille; es dauerte eine Weile, bis ihm klarwurde, dass er keine Vögel hörte. Die Fauna sah für sich keine Zukunft mehr in Roombeek. Er war aus dem Haus geflohen, um zu sich zu kommen. Auf dem Tisch hatte er einen Zettel zurückgelassen, auf dem stand, dass er neue Staubsaugerbeutel und für sie beide etwas zu essen besorgen ging.
Er wollte mit dem Rad zum Roomweg fahren, zu einem kleinen Geschäft mit Haushaltsartikeln, das gegenüber der Pommesbude lag, doch erst als er die Holzwand sah, wurde ihm bewusst, dass es den Laden nur noch in seiner Erinnerung gab. Sie würde sich also mit Wilbert treffen. Er radelte am Rijksmuseum vorbei, überquerte die Lasondersingel und fuhr in das dahinterliegende Wohnviertel. Musste er eifersüchtig sein oder besorgt? Hinter der Grundschule bog er links ab und kam am sogenannten Blumendenkmal vorbei, einem kleinen Park an der Deurningerstraat, in dem sich in Cellophan verpackte Blumensträuße zum Gedenken an die Opfer türmten. Warum konnte er kein Mitleid empfinden?
Mit einem vagen Gefühl des Unbehagens fuhr er durch die Straße, in der Blaauwbroek wohnte, warf einen Blick ins Wohnzimmerfenster, sah aber niemanden. Er überquerte die Gleise, steuerte die Innenstadt an und fuhr die Langestraat hinunter, bis er zum Warenhaus der Kette Hema kam. War seine Fähigkeit zur Empathie denn vollständig verschwunden? Machte er sich nicht klar, dass da eine Art Grundeifersucht war, ein giftgrünes Fundament, das seinen Blick selbst auf die ernstesten Dinge trübte?
Er bezahlte die Staubsaugerbeutel, ein Stück Käse und sechs Müslibrötchen und ging, das Fahrrad neben sich herschiebend, zum Dessousgeschäft in der Haverstraatpassage. Nicht ganz zufällig kam er dabei an Ennios Delikatessenladen vorbei, an der dunkelroten Tür hing ein Zettel: «Umständehalber geschlossen», er blieb vor dem üppig dekorierten Schaufenster stehen und betrachtete einen Turm aus Gläsern: Colman’s Original Mustard, Wilkin & Sons No Peel Orange Marmelade in Minigläsern, Mrs. Ball’s Peach Chutney in länglichen Gläsern, allesamt so gestapelt, dass das Bauwerk wie ein Männlein aussah. Darüber hing an einem kaum sichtbaren Nylonfaden eine schwarze Melone, daneben, an zwei Fäden, ein diagonal angebrachter Spazierstock. Er stellte sich vor, wie Ennio sich hinter der Scheibe krampfhaft mit seinen Waren abmühte, und kam zu dem Schluss, dass Joni unmöglich Sex mit jemandem haben konnte, der sich einen derartigen Blödsinn ausdachte und anschließend auch noch umsetzte.
War er zu eifersüchtig? Musste er sich mäßigen? Bestand die Möglichkeit, dass er es zu weit trieb? Stol, Ennio, Wilbert, vögeln, vögelte, gevögelt – drei Kerle, die ihm den Schlaf raubten; sagte die Anzahl etwas über ihn aus oder über Joni?
Er setzte seinen Weg fort und betrat das Dessousgeschäft. Heute oder morgen mussten sie irgendwie eine neue Fotoserie machen. Vielleicht ließ sich etwas Brauchbares finden, etwas, mit dem er seinen guten Willen zeigen konnte. Die ältere Dame hinter dem Verkaufstisch nickte ihm zu. Aus einem übervollen Hängeregal wählte er ein schwarzes Bustier aus durchsichtigem Tüll mit roten Stickereien auf den
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