Bonita Avenue (German Edition)
Kannegieter.
«Um Viertel vor neun ist Anstoß.»
«Siem», sagt er, «ich will es mal andersrum versuchen. Vor ein paar Tagen habe ich mit Wim gesprochen, schon vorher hatten wir uns ausführlich über dich unterhalten, er war es selbst, der die Sprache auf dich brachte – und tatsächlich, Zweifel, Zweifel, als Wissenschaftler schätzt er dich außerordentlich, das kannst du mir glauben, und auch als Manager, aber er weiß nicht, wie er dich politisch einstufen soll, und das ist tatsächlich ein Unsicherheitsfaktor.» Ein Stück Speck fliegt aus seinem Mund, es landet in hohem Bogen auf dem Rand von Sigerius’ Teller. «Weil er danach fragte, habe ich ihm von unserer Zeit in Boston berichtet, über unsere Zusammenarbeit, über Mathematik natürlich – aber auch über unsere Freundschaft, Siem, über unsere gemeinsamen Familienausflüge, darüber, dass unsere Kinder gelegentlich bei der Familie des anderen übernachtet haben. Eigentlich will so ein Mann nur wissen, ob er dir vertrauen kann. Mach dir nicht zu viele Sorgen.»
In Sigerius’ Kopf geschieht etwas, das in den letzten Wochen bereits öfter geschehen ist: Von einem Moment auf den nächsten zieht sich der Himmel zu. Kannegieters Freundlichkeiten beruhigen ihn nicht, und sie stimmen ihn auch nicht dankbar, sie bedrücken ihn vielmehr, machen ihn latent aggressiv, sie interessieren ihn nicht; was er anführt, sammelt sich in ihm zu einem morastigen Pfuhl der Gleichgültigkeit, er muss der neuronalen Transmission aktiv entgegenwirken, um nicht ausfallend zu werden. Freundschaft? Unerträglich, wie großzügig Kannegieter das Wort über seine kultivierten Lippen bringt. Sie sehen einander kurz an. Was ist noch übrig von ihrer «Freundschaft»? Von ihrem früher einmal so kumpelhaften und regelmäßigen Umgang miteinander? Wie vertraut sind sie sich eigentlich gewesen? O ja, in den flüchtigen Abstraktionen ihrer Arbeit verstanden sie sich blind, zwei-, dreimal am Tag traten sie an den Schreibtisch des jeweils anderen, mit leuchtenden Augen diskutierten sie über unitale C*-Algebren mit einer Prädualen – was meinst du, Fred, sind sie einmalig? Als Banach-Raum schon, glaube ich, oder vielleicht doch nicht immer? Abgesehen vom Isomorphismus, und so weiter und so fort, stundenlang, und, ja doch, das hatte was. Aber Freundschaft? Wie oft reden wir noch miteinander, Kannegieter? Was wissen wir voneinander?
Der Mann ihm gegenüber hat eine andere Reaktion erwartet, zwischen Daumen und Zeigefinger klemmt er das rechte Brillenglas, drückt und zieht daran, um irgendetwas zu tun. Mal angenommen, er würde ihm ein wirkliches Problem auftischen. Einfach so, zack, seine innersten Beweggründe, etwas, das ihm zutiefst Sorge bereitet. Wenn er sagen würde: «Frederik, hör mal, ich fürchte, meine ältere Tochter prostituiert sich im Internet.» Seine Hände werden feucht bei dem Gedanken. Es ist eine Unmöglichkeit. Irgendwo hinter der Hecke, die sie vom Regierungsbezirk, dem Buitenhof, trennt, hupt ein Auto; eine Sekunde lang schauen sie beide auf die Mauer aus Laub.
«Ich danke dir, Fred», sagt er zerstreut. «Ich weiß deine Vermittlung zu schätzen.»
Nachdem er bezahlt hat, gehen sie um den Hofweiher herum zum Plein, wo Kannegieters Chauffeur auf einer Caféterrasse ein Spiegelei isst. Die Stimmung ist merklich abgekühlt. Sie geben sich die Hand.
Er biegt in die windige Korte Houtstraat ein, kramt, um eine Viertelstunde totzuschlagen, bei De Plaatboef in den Kästen mit gebrauchten Jazzplatten. Weiß er überhaupt, was Freundschaft ist? Unterhält er Kontakte, von denen sich behaupten ließe, dass es Freundschaften sind? Während er so langsam wie möglich zum Gesundheitsministerium geht, blättert er in Gedanken sein Adressbuch durch. Er scheint ein Mann mit Kollegen zu sein, mit Kontakten, die ihm auf dem Silbertablett präsentiert werden, doch in Wirklichkeit wählt er Sparringspartner, Konkurrenten, an denen er sich emporarbeiten kann. Die anderen als Messlatte, als Schleifstein.
Er geht durch ein architektonisch vertretbares Tor, überquert den Innenhof des Ministeriums. «Ich bin ein Egoist», hatte Menno auf dem Weg zu einem Turnier in Düsseldorf einmal gesagt, «und du auch, Siem. Leute von unserem Schlag sind in gewisser Weise Einzelgänger, die haben keine Freunde.»
Am Empfangstresen in dem riesigen ziegelroten Gebäude bekommt er einen Besucherausweis. Er nimmt den Aufzug zum fünften Stock und betritt einen mit hellem Furnier
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